AG-Blog | Besser ist nicht gut genug – Warum der digitale und grüne Wandel eine echte Transformation sein muss

Wie kann der Staat die innovativen Möglichkeiten der Digitalisierung selbst für eine nachhaltige Entwicklung nutzen und durch die Gestaltung von Rahmenbedingungen nutzbar machen? Wie kann er mögliche negative Effekte (z. B. Energie- und Ressourcenverbrauch) berücksichtigen und die Digitalisierung nachhaltig gestalten? Bei der AG Innovativer Staat wurde über die Zwillingstransformation diskutiert.

Berlin. Die erste Sitzung der AG Innovativer Staat im Jahr 2023 stand ganz im Zeichen der nachhaltigen Transformation. Inspiriert wurde die Themenwahl von den Erkenntnissen des D21-Digital-Index: Zwar ist der Einfluss der grünen und digitalen Transformation bereits in allen Bereichen des Lebens spürbar, doch noch immer fällt es den meisten Bürger*innen schwer, die Beziehung zwischen Digitalisierung und (ökologischer) Nachhaltigkeit nachzuvollziehen. Dabei bilden das Wissen über Wirkzusammenhänge und die Einstellung zu diesen Prozessen und notwendigen Maßnahmen das Fundament, auf dem die Veränderungs- und Handlungsbereitschaft der Bürger*innen fußt.

Pablo Mentzinis steht vor einem großen Display in einem Tagungsraum, daneben ein Banner der Initiative D21.
AG-Leiter Dr. Pablo Mentzinis eröffnet die AG-Sitzung

Diese Erkenntnisse aus dem D21-Digital-Index stellte D21-Geschäftsführerin Lena-Sophie Müller der AG Innovativer Staat vor, denn die AG-Co-Leitung, Dr. Pablo Mentzinis und Cornelia Gottbehüt, hatte in die Räumlichkeiten von Ernst and Young in Berlin eingeladen, um die Rolle des Staates für diesen weitreichenden Transformationsprozess zu diskutieren. Die Leitthese: Der Staat braucht ein Narrativ, einen Nordstern, für eine digitale und grüne Zukunftsvision, um die eigenen Nachhaltigkeitsziele auch erreichen zu können.

Die Agenda 2030 als Vision für eine nachhaltige Entwicklung

Thomas Weber steht vor einem großen Display, auf dem die Nachhaltigkeitsziele der UN zu sehen sind. Er hält einen Vortrag und lehnt auf einem Stehpult.
Thomas Weber, Referatsleiter für Nachhaltigkeit im Bundesministerium der Justiz

Den Rahmen für alle politischen und gesellschaftlichen Nachhaltigkeitsbestrebungen sieht Dr. Thomas Weber, Referatsleiter für Nachhaltigkeit im Bundesministerium der Justiz, in der Agenda 2030 der Vereinten Nationen. Dieses Papier sei nichts weniger als eine „Sternstunde der Menschheit“, weil sich 2015 alle Regierungen der UN einstimmig auf die dort verabredeten Ziele einigen konnten. Jetzt ist Halbzeit auf dem Weg zum Jahr 2030, in dem die 17 Nachhaltigkeitsziele der Agenda (SDGs) erreicht sein sollen – ein historischer Zeitpunkt. Bisher, so seine Bilanz, sehe es nicht so aus, als würden die Ziele erreicht werden: „Vor allem das Silodenken in den Köpfen der Entscheider*innen steht der Erreichung der Ziele im Weg. Die Nachhaltigkeitsziele sind eine Querschnittsaufgabe, bei der das Ressortdenken zu kurz greift“, so Weber.

Alles hängt mit allem zusammen und jede*r Mitarbeiter*in muss sich fragen: Was hat mein Handeln mit der Agenda 2030 zu tun?
Thomas Weber, Referatsleiter für Nachhaltigkeit im Bundesministerium der Justiz

Das Vorgehen des BMJ bei der Umsetzung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie (DNS), welches Weber der Arbeitsgruppe skizzierte, könne dabei als Blaupause für alle Häuser dienen, um einen substanziellen Beitrag zu einer nachhaltigen Transformation in ihren jeweiligen Bereichen zu leisten. Im Zentrum der Nachhaltigkeitsbestrebungen des BMJ steht der sogenannte Ressortbericht Nachhaltigkeit zum Stand der Integration der Rechts- und Verbraucherpolitik in die Agenda 2030. Dieser Bericht zum aktuellen Stand der Integration der Rechts- und Verbraucherpolitik in die Erreichung der 17 Nachhaltigkeitsziele skizziere sehr anschaulich, wie verwoben die Aktivitäten des Hauses mit der Agenda seien, und diene als Grundlage für die Ableitung von konkreten Leitlinien für die einzelnen Abteilungen des Hauses. Die 17 SDGs und ihre 169 Zielvorgaben werden in der Arbeit im BMJ im Zusammenhang gedacht und angewendet. Während die Leitlinien die Frage beantworten, wie das Haus mit den Nachhaltigkeitszielen umgeht, skizziert die darauf aufbauende Roadmap des BMJ klare Arbeitsschritte für die Berücksichtigung der Nachhaltigkeitsziele.

Von hinten werden ein Publikum und 2 Referierende vorne auf der Bühne fotografiert. Rechts steht ein Mann, der gerade eine Frage stellt.
Die Gäste haben viele Fragen an Thomas Weber.

Ein weiteres zentrales Papier, das Weber den anwesenden Gästen vorstellte, sind die Empfehlungen des BMJ und des Bundeskanzleramtes zur Stärkung der Verbindlichkeit der Nachhaltigkeitsziele bei der Erstellung von Gesetzen und Verordnungen. Es zeige auf, wie die verschiedenen Ressorts in der Rechtspolitik einen entscheidenden Beitrag zur Transformation leisten können. Ziel sei es, die SDGs in allen Prozessschritten der deutschen Gesetzgebung mit einzubeziehen. Dies gilt neben Gesetzen und Verordnungen auch für Strategien und Programme der Bundesregierung, die durch das BMJ einer Nachhaltigkeitsprüfung unterzogen werden.

In der letzten Reihe eines Publikums steht ein Mann auf und stellt eine Frage.
D21-Präsidiumsmitglied Thomas Langkabel diskutiert angeregt mit.

Die Zuhörer*innen waren besonders interessiert daran, wie die Fortschritte bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategie mess- und greifbar gemacht werden. Weber wies darauf hin, dass es schwer sei, Systemprozesse operationalisierbar zu machen. Zwar seien die 17 SDGs mit konkreten Indikatoren hinterlegt, jedoch scheitere man bisher daran, einen Systemindikator „Nachhaltigkeit“ zu schaffen. Das Problem: „Kein Ökosiegel kann tatsächlich Auskunft darüber geben, wie nachhaltig ein Systemzustand ist.“ Im Beschluss sei eine Evaluation festgeschrieben, dies müsse aber auch möglichst früh kommuniziert werden, damit die Ressorts die Empfehlungen auch als Vorgabe verstehen. Es sei, das habe seine Erfahrung gezeigt, zudem schwer, herauszufinden, wann eine Maßnahme oder ein Gesetzesentwurf wirklich nachhaltig sei. Es gebe eine formale Prüfschablone, die verbale Repräsentation der Nachhaltigkeit werde im Vorblatt geprüft – aber die umfassende Wirkung eines Gesetzesentwurfes auf die 17 SDGs könne nur schwer eingeschätzt werden.

Unter den Gästen kam die Frage nach dem Umgang des Gesetzgebers mit möglichen Zielkonflikten auf: Wie sollten die Nachhaltigkeitsziele priorisiert werden? „Es handelt sich hier nicht um Ziel- sondern um Umsetzungskonflikte“, so Weber. Über diese müsse bei der Gesetzesprüfung Rechenschaft abgelegt werden. Er sehe durchaus Interessenskonflikte bei der Umsetzung der Nachhaltigkeitsstrategie, aber die politische Aufgabe bestehe darin, diese so aufzulösen, dass eine nachhaltige Entwicklung erreicht werden könne. In diesem Zusammenhang machte Weber die Gäste der Arbeitsgruppe auf das aktuelle Papier des Staatssekretärsausschuss für nachhaltige Entwicklung aufmerksam.

Nicht besser, sondern anders – Die Twintransition muss eine echte Transformation sein

Eine weitere Querschnittsaufgabe, die alle Lebens- und damit auch gesellschaftlichen und politischen Handlungsbereiche berührt, ist die digitale Transformation. Dr.-Ing. Stephan Ramesohl, Co-Leiter des Forschungsbereichs Digitale Transformation am renommierten Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie, ging in seinem Impuls der Frage nach, warum der Staat Digitalisierung und Nachhaltigkeit zusammen denken muss. Sein Plädoyer:

Wir müssen die Digitalisierung als mächtigste Transformationskraft der Welt in den Dienst der Nachhaltigkeit als drängendste Transformationsaufgabe der Welt stellen.
Dr.-Ing. Stephan Ramesohl, Co-Leiter des Forschungsbereichs Digitale Transformation am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie

Ramesohls zentrale Botschaft ist, dass das Handlungsfenster, in dem die Menschheit das Ruder noch herumreißen könne, immer enger werde. Planetare Grenzen seien schon längst überschritten oder werden es demnächst sein. Deshalb seien die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts die „Dekade des Handelns“. Ein tiefgreifender Wandel der Art und Weise, wie die Digitalisierung auf dem Weg hin zu einer nachhaltigen Entwicklung eingesetzt werde, sei unabdingbar: „Bisher nutzen wir Digitalisierung, um noch schneller und effizienter gegen die Wand zu fahren. Sie verbessert nur die Dinge, die grundlegend falsch gemacht werden. Ein selbstfahrendes Auto wird keines unserer Umweltprobleme lösen. Wir brauchen eine Verkehrswende.“

Stephan Ramesohl steht gestikulierend hinter einem Stehpult und hält einen Vortrag, dahinter ein Banner der Initiative D21 und ein großes Display.
Dr. Stephan Ramesohl, Co-Leiter des Forschungsbereichs Digitale Transformation am Wuppertal Institut

Es gehe nicht um Technologien, sondern um eine missionsorientierte Innovationspolitik, die Prozesse innoviert, statt mit der Digitalisierung nur daran zu schrauben, das Jetzt zu verstetigen: „Die politische Gestaltung der Digitalisierung entscheidet darüber, ob sie zum Brandbeschleuniger sozialer und ökologischer Krisen oder zum Werkzeugkasten für eine nachhaltige Zukunft wird.“ Damit letzteres eintrete, müssten digitale Ökosysteme und sozio-ökonomische Systeme als Ganzes entlang von übergeordneten gesellschaftlichen Leitwerten und politischen Leitplanken zukunftsfähig gestaltet werden. Kurzum: Es brauche eine neue digital-ökologische Staatskunst für eine nachhaltige Entwicklung.

Mit dem Wuppertal Institut setzt Ramesohl aktuell das Projekt „CO:DINA – Transformationsroadmap Digitalisierung und Nachhaltigkeit” um. Es ist eine Maßnahme der Umweltpolitischen Digitalagenda des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV), die Wissenschaft, Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft vernetzt, um neue strategische Stoßrichtungen für eine sozial-ökologische Digitalisierung zu identifizieren. Ramesohl stellte der AG einige Erkenntnisse des Projekts vor. Zentraler Befund: Staat und Gesellschaft seien derzeit für die Gestaltungsaufgabe einer digital-ökologischen Transformation unzureichend aufgestellt. Außerdem werde im bisherigen Handeln eher auf Dynamiken und Disruptionen durch das Digitalsystem reagiert, statt einen „Systemwandel by Design“ zu ermöglichen: „Zugespitzt: Lauter Zwerge piksen mit Zahnstochern das Biest der Nachhaltigkeitstransformation. Das hat nur Ausweichhandlungen statt einer echten Transformation zur Folge.“

Eine Frau steht vor einem Fenster, die hat die Hände verschränkt. Neben ihr ein Laptop auf einem Stuhl.
Das Thema Zwillingstransformation sorgte für engagierte Wortbeiträge der Gäst*innen.

Die derzeitigen politischen und sozio-ökonomischen Strukturen seien zu schwach und diffus, um den nötigen Strukturwandel umzusetzen. Es brauche deshalb Intermediäre, die den Prozess treiben und leiten. Bisher jedoch fehle es den Akteur*innen entweder an den Kompetenzen, den Ressourcen oder dem Mandat, um entsprechend handlungsfähig zu sein. Die vorherrschende Orientierungslosigkeit, Kompetenzstreuung und Wirkungsverdünnung könne daher letztlich nur mit neuen Governance-Modellen überwunden werden, seien es neue Systemakteur*innen oder eine neue Qualität der Vernetzung und Kollaboration bestehender Akteur*innen.

Klimaresilienz und Digitalisierung in Kommunen

Marina Hoffmann steht gestikulierend hinter einem Stehpult und hält einen Vortrag, dahinter ein Banner der Initiative D21 und ein großes Display.
Dr. Marina Hofmann, Amtsleitung der Wissenschaftsstadt Darmstadt

Nach der Mittagspause mit vielen angeregten Diskussionen über das bisher Gehörte kamen die Gäste der Arbeitsgruppe noch einmal zusammen, um Einblicke aus zwei aktuelle Projektbeispiele der Zwillingstransformation zu gewinnen. Dr. Marina Hofmann, Amtsleitung der Wissenschaftsstadt Darmstadt, hatte das Projekt „Schlaues Wasser Darmstadt“ mitgebracht, das als Modellprojekt „Smart City made in DE“ durch das Bundesministeriums für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen (BMWSB) gefördert wird. Darmstadt ist eine von 73 Kommunen, die mit ihrem Projekt modellhaft, skalierbar und übertragbar zeigen sollen, wie integrierte Stadtentwicklung funktionieren kann. Hofmann erkläre, dass die größte Herausforderung bei dieser Art von Projekt das ganzheitliche Herangehen sei.

Die Amtsrätin präsentierte, wie Darmstadt Digitalisierung und Klimaresilienz zusammendenkt. Die vier Säulen seien dabei

  • eine verlässliche Datengrundlage, um wichtige Informationen sichtbar zu machen und in Echtzeit zu kommunizieren,
  • der Einsatz von digitalen Technologien, die dabei helfen, Ressourcen einzusparen oder gezielter einzusetzen,
  • die Nutzung von Prognosemöglichkeiten, um Krisensituation (z. B. Starkregen, Hitze, Trockenheit) zu simulieren und entsprechende Maßnahmen zu testen,
  • die Vernetzung digitaler Technologien, um das Klima durch den Aufbau und die Nutzung von Synergieeffekten zu schützen.

Break-Even-Point: Ressourceneinsatz in der digitalen Transformation

Anschließend stellte Veronika Abraham, Lead Consultant Sustainability bei Ramboll, ein Projekt im Auftrag des Umwelt Bundesamtes vor, bei dem die Ressourcenintensität des digitalen Wandels in Deutschland analysiert wurde. Am Beispiel eines sogenannten Smart Homes zeigte Abraham anschaulich, dass die Herstellung und der Einsatz digitaler Technologien zum Schutz der Umwelt noch zu stark mit einem hohen Ressourceneinsatz verknüpft seien und der sogenannte Break-Even-Point, an dem Aufwand (Ressourceneinsatz für Herstellung und Einsatz) und Nutzen (Einsparung von CO2) häufig noch nicht einmal erreicht, geschweige denn überschritten werde. Diese Erkenntnis müsse eine viel höhere Bedeutung bei der Kommunikation zum Thema Digitalisierung und Nachhaltigkeit spielen, denn den größte Hebel für den erfolgreichen Einsatz von Technologien bei der Reduktion von CO2 im Verbraucher*innenkontext stelle immer noch das Nutzer*innenverhalten dar.

Veronika Abraham steht gestikulierend hinter einem Stehpult und hält einen Vortrag, dahinter ein Banner der Initiative D21 und ein großes Display.
Veronika Abraham, Lead Consultant Sustainability bei Ramboll

Letztlich sei entweder die Herstellungs- oder die Nutzungsphase entscheidend, etwa durch die eingesetzte Stromquelle (nur durch den Einsatz von Ökostrom können echte Effekte erzielt werden) oder durch die grüne Herstellung von IKT, damit echte Energieeinsparungen durch Technologien möglich werden können. Abrahams Fazit: Die untersuchten Fallbeispiele zeigen anschaulich, dass Digitalisierung richtig gestaltet werden muss, damit sie die Umwelt schützen kann, „sonst ist sie eher ein weiterer Treiber des Klimawandels“.

Die Diskussionen der Sitzung gaben der Arbeitsgruppe und ihren Mitgliedern viele Impulse mit auf den Weg, um weiter darüber nachzudenken, wie der Staat innovative Möglichkeiten der Digitalisierung entweder selbst für nachhaltige Entwicklung nutzen oder durch die Gestaltung von Rahmenbedingungen nutzbar machen kann. Dass wir in diesem Prozess noch viele Überzeugungstäter*innen, aber eben auch Strukturen und Verfahren brauchen, um wirklich voranzukommen, das haben die Gespräche des Tages eindrücklich gezeigt.

Ein bestuhlter Raum, in dem viele Menschen sitzen. Einer steht und spricht nach vorne.
Die AG-Mitglieder gingen mit vielen interessanten Gedanken nach Hause.

Ansprechpartner in der Geschäftsstelle

Porträt von Alexander Köhler