AG-Blog | Geist, Körper, Psyche – wie der digitale Wandel uns (unbemerkt?) verändert

So wie weiches Essen unsere Kiefer verändert hat und die Erfindung der Uhr unseren natürlichen Tagesrhythmus ersetzt hat, verändert auch der digitale Wandel uns Menschen – sei es unser Körper, unsere Identität, unsere Beziehungen oder zahlreiche Aspekte unseres Alltags. Die AG Digitale Ethik diskutierte, wo und wie genau vor allem der wachsende Einsatz von Künstlicher Intelligenz seine Spuren hinterlässt.

Berlin/virtuell. Was bedeutet es, Mensch zu sein – im digitalen Zeitalter? Diese Frage stand im Zentrum der Sitzung der AG Digitale Ethik in den Räumlichkeiten der Konrad-Adenauer-Stiftung in Berlin, vorbereitet durch die Co-Leitungen Dr. Nikolai Horn (iRights.Lab) und Jolanda Rose (b.yond), bei der die Teilnehmenden neue Perspektiven auf die Wechselwirkungen zwischen technologischer Transformation und menschlicher Verfasstheit diskutiert haben. Neben einem philosophischen Auftakt boten Impulse aus der Neuropsychologie, der kognitiven Ergonomie und der gewerkschaftlichen Praxis einen facettenreichen Blick auf gegenwärtige Entwicklungen und zukünftige Chancen wie Herausforderungen. Dabei wurde klar: Dynamik und Veränderung ist ein übergreifendes Thema, aber ein differenzierter Blick ist lohnenswert und wichtig, denn das Themenspektrum ist groß.

Von der Kieferform bis zur Selbstwahrnehmung: Digitale Spuren in Geist, Körper und Psyche

Dr. Nikolai Horn bei seinem philosophischen Impuls
Dr. Nikolai Horn
Dr. Marie Blachetta führt vor, wie sich unsere kleinen Finger an das Halten von Smartphones angepasst haben.
Dr. Marie Blachetta führt vor, wie sich unsere kleinen Finger an das Halten von Smartphones angepasst haben.

Zum Auftakt warf Dr. Nikolai Horn in seinem philosophischen Impuls einen Blick auf zentrale Entwicklungslinien des Menschwerdens. Der Mensch, so Horn, sei seit jeher einem Wandel unterworfen: Weiche Nahrung verändere die Kieferstruktur, künstliches Licht wirke sich auf den natürlichen Schlafrhythmus aus, rationales Denken präge seit der Aufklärung unser Selbstverständnis. Auch die Digitalisierung reihe sich in diese Linie der Einflussfaktoren ein. Dabei verknüpf¬te Horn die anthropologische Dimension mit ethischen Fragen: Wenn wir unseren Alltag zunehmend mit digitalen Tools strukturieren, was bedeutet das für unsere Selbstwahrnehmung, unser Denken, unsere Beziehungen? Die Digitalisierung verändere nicht nur unsere Interaktion mit der Welt, sondern auch unser Bild vom Menschsein selbst

Unsere Kulturtechniken, unsere geistige, psychische und körperliche Verfassung aber auch unser Menschenbild verändern sich. Die Frage ist nicht, ob, sondern wie wir diesen Wandel gestalten wollen.
Dr. Nikolai Horn, AG-Co-Leitung

Anhand der Trias von Geist, Körper und Psyche wurden Chancen wie Herausforderungen greifbar:

  • Körperlich führen digitale Geräte zu neuen Haltungsmustern, veränderter Motorik und gesundheitlichen Belastungen, bieten zugleich aber Chancen für Inklusion, Diagnostik und körperliche Selbstoptimierung.
  • Psychisch ermöglichen digitale Tools niederschwellige Hilfe bei Stress und Angststörungen, bergen aber auch Risiken wie Vereinsamung, emotionalen Druck und digitale Überreizung.
  • Geistig unterstützen sie Wissensmanagement und Bildung, verändern jedoch unsere Denkmuster und Reflexionsfähigkeit, etwa durch verkürzte Aufmerksamkeitsspannen oder algorithmisch geprägte Bewertungslogiken.

KI, mentale Gesundheit und emotionale Bindung – zwischen Potenzial und Risiko

Einen tiefergehenden Blick auf die psychologischen Auswirkungen digitaler Technologien warf Prof. Dr. Christian Montag (University of Macau). In seinem Impuls lag der Fokus auf seiner Forschung zur Schnittstelle zwischen psychischer Gesundheit und KI. Unter Rückgriff auf das IMPACT-Rahmenwerk skizzierte er systematisch, welche Faktoren für die Gestaltung KI-gestützter Gesundheitsinterventionen zentral seien – von Modalität und Anwendungsbereich über kulturelle Kontexte bis hin zur Transparenz algorithmischer Entscheidungen. IMPACT steht hierbei für: Interplay of Modality, Person, Area, Culture/Country und Transparency.

Prof. Dr. Christian Montag in einem Videokonferenzfenster
Prof. Dr. Christian Montag

Ein zentrales Thema war dabei der Einsatz von KI-Anwendungen in der psychischen Gesundheitsversorgung: Tools könnten Therapieprozesse unterstützen, etwa durch Dokumentationshilfen, die Arbeit von Therapeut*innen entlasten oder Nutzer*innen bei Selbstmanagement und Alltagsreflexion begleiten. Besonders in Therapiekontexten mit langen Wartezeiten oder eingeschränktem Zugang könne das hilfreich sein. Doch bestünden erhebliche Risiken bei nicht verifizierten Systemen und Anwendungen:

Man muss sich bewusst sein: Data doesn’t suffer, Daten leiden nicht. KI kann das Gespräch zwar imitieren, ist aber nur eine statistische Aneinanderreihung von Worten, in die wir Menschen oftmals menschliches Verhalten hineininterpretieren. Das birgt die Gefahr einer täuschenden Beziehung.
Prof. Dr. Christian Montag, University of Macau

Eine emotional aufgeladene Beziehung zu Chatbots sei dabei keine Seltenheit: In einer Studie mit Studierenden erklärten zum Beispiel 3 % der Befragten, durch KI-gestützte Systeme vor suizidalen Gedanken geschützt worden zu sein (es ist aber nicht klar, wie gut eine Vergleichsgruppe mit menschlicher Unterstützung abgeschnitten hätte). Gleichzeitig gebe es Fälle, in denen die Interaktion mit generativer KI Menschen in der Krise weiter destabilisiert habe. Das Beispiel eines Jugendlichen, der nach einem Gespräch mit einem KI-Avatar Suizid beging, mache deutlich, dass es an regulatorischen Standards und an empirischen Langzeitstudien fehle, um solche Risiken frühzeitig zu erkennen und zu vermeiden.

Montags Fazit: KI mag das Wohlbefinden bei manchen Nutzenden kurzfristig verbessern, etwa durch „Social Agents“, die das Gefühl sozialer Nähe erzeugen. Doch gerade im sensiblen Bereich mentaler Gesundheit müsse eine sichere, transparente und kulturell reflektierte Anwendung oberste Priorität haben.

In einem hybriden Setting diskutierten die Teilnehmenden vor Ort und im virtuellen Raum angeregt über die Impulse.
In einem hybriden Setting diskutierten die Teilnehmenden vor Ort und im virtuellen Raum angeregt über die Impulse.

Soziale Kognition, Teaming und kognitive Entlastung – Perspektiven aus der Kognitionsforschung

Prof. Dr. Eva Wiese (TU Berlin) warf in ihrem Impuls einen neuropsychologischen Blick auf die Schnittstelle von Mensch und Maschine. Ihre Forschung zu „Brains, Minds & Bots“ untersucht, wie Menschen mit sozialen Robotern interagieren, wie Vertrauen entsteht und welche Formen der Zusammenarbeit zwischen Mensch und KI sinnvoll sind. Dadurch könne sie zeigen, wie sich durch KI-Systeme nicht nur Arbeitsprozesse, sondern auch Wahrnehmung, Vertrauen und Teamdynamiken verändern:

Wenn ein Roboter lächelt, empfinden wir das als Belohnung – obwohl wir wissen, dass er kein Gefühl dabei empfindet.
Prof. Dr. Eva Wiese, TU Berlin
Prof. Dr. Eva Wiese bei ihrem Vortrag
Prof. Dr. Eva Wiese

Ihre Forschung zeige, dass viele Menschen KI-Systeme ähnlich wie Mitmenschen behandeln, so Wiese. Die Aktivierung des „sozialen Gehirns“ lasse sich in Experimenten klar nachweisen. Doch gerade diese Empathie-Illusion berge Risiken: Wo Menschen zu viel Vertrauen in KI setzen, könne es zu Überverantwortung, Fehleinschätzungen oder Entfremdung kommen. Dabei werde deutlich: Menschliche Kognition ist nicht per se unterlegen, sondern sei anders gelagert – Intuition, moralisches Urteilsvermögen und soziale Bindungsfähigkeit würden essenziell bleiben:

KI darf uns nicht davon abhalten, unsere kognitiven Kompetenzen weiterzuentwickeln.
Prof. Dr. Eva Wiese, TU Berlin

Gleichzeitig könne KI kognitive Entlastung bieten, wenn sie beispielsweise Aufgaben übernehme, die Menschen nicht machen wollen, oder sie bei der Informationsverarbeitung oder Entscheidungsfindung unterstütze. Dazu seien jedoch neue Kompetenzen nötig: metakognitive Fähigkeiten, kritischer Umgang mit algorithmischen Vorschlägen und die Fähigkeit, Aufgaben sinnvoll zwischen Mensch und Maschine aufzuteilen.

Digitale Transformation der Arbeitswelt – gestalten statt getrieben werden

Den praxisnahen Blick auf den digitalen Wandel brachte Christoph Schmitz-Dethlefsen vom Bundesvorstand der ver.di ein. Seine Analyse zeigte eindrücklich, wie digitale Technologien die Arbeitsrealität verändern – mit positiven wie problematischen Effekten. So stelle sich die Frage, OB wir mit KI zusammenarbeiten wollen, nicht mehr – wir würden es bereits tun.

Digitale Systeme erleichterten Prozesse in Versicherungen, Banken oder dem Kund*innenservice, so Schmitz-Dethlefsen. Sie entlasten von Routinetätigkeiten, steigern die Effizienz – und erzeugen zugleich neue Belastungen:

Im Kund*innenservice verschwinden durch den Einsatz von KI die Routinefälle. Was bleibt, sind die komplexen, oft emotional aufgeladenen Sonderfälle – ein zusätzlicher Belastungsfaktor für die ohnehin überlasteten Mitarbeitenden.
Christoph Schmitz-Dethlefsen, ver.di Bundesvorstand
Christoph Schmitz-Dethlefsen bei seinem Vortrag
Initiative D21

Die Zahlen sprächen für sich: 60 % der Beschäftigten berichten, mehr Arbeit in gleicher Zeit leisten zu müssen. Ein Drittel der Erwerbstätigen fühle sich nach der Arbeit erschöpft und könne nicht richtig abschalten. Psychische Erkrankungen seien auf Platz 3 der Krankschreibungsgründe „aufgestiegen“. Die rund 1,2 Milliarden 2024 geleisteten Überstunden (wovon etwa 632 Millionen unbezahlt blieben) würden dies unterstreichen. Das Problem laut Schmitz-Dethlefsen: Digitalisierung werde zu oft als Rationalisierungsinstrument eingesetzt, ohne auf die langfristigen Folgen für die Menschen zu achten.

Nicht die Technologie ist das Problem, sondern wie wir sie einsetzen.
Christoph Schmitz-Dethlefsen, ver.di Bundesvorstand

Schmitz-Dethlefsen plädierte daher für mehr Gestaltungsmöglichkeiten: Mehr Mitbestimmung und Mitgestaltungsmöglichkeiten für Beschäftigte, klare Regelungen zur Erreichbarkeit und transparente Standards im KI-Einsatz seien zentrale Stellschrauben für gesunde Arbeitsbedingungen im digitalen Wandel.

Menschliche Superpower und die Verantwortung der Gestaltung

In der abschließenden Paneldiskussion diskutierten Wiese, Schmitz-Dethlefsen und Horn gemeinsam mit den Teilnehmenden Fragen wie: Was sind genuin menschliche Fähigkeiten („Superpowers“), die nicht ersetzbar sind? Wo braucht es den Menschen unabdingbar – und wo können wir uns entlasten lassen? Wo liegen Kipppunkte zwischen entlastender und entfremdender KI-Nutzung? Und wer trägt die Verantwortung für die Gestaltung dieser Schnittstellen – Politik, Unternehmen oder jede*r Einzelne? Ethik, Intuition, soziale Bindung, Kreativität – das seien keine Maschinenattribute, so eine Stimme aus dem Plenum.

In der Diskussion wurde deutlich: Die Grenzen sind nicht statisch. Wo KI hilft, etwa bei der Dokumentation in der Pflege, können menschliche Räume wiedergewonnen werden. Allerdings erforderten technologische Entwicklungen neben einer anpassungsfähigen und agilen Regulatorik eine gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung. Fragen von Ausbildung, Arbeitsgestaltung, sozialem Zusammenhalt und ethischer Reflexion müssten zusammengedacht werden, um nicht nur Innovation, sondern auch Inklusion und Resilienz zu sichern.

Ansprechpartnerin in der Geschäftstelle

Porträt von Dr. Marie Blachetta

Dr. Marie Blachetta, Referentin Digital Responsibility (sie/ihr)