„Resilienz ist immer auch eine soziale Frage.“

Interview mit Prof. Dr. Klaus Lieb zum Kapitel „Resilienz im digitalen Wandel“ im D21-Digital-Index 2022/2023
Porträt von Klaus Lieb mit einem schwarz-weißen Malerei-Filter.

Prof. Dr. Lieb, Sie leiten das Leibniz-Institut für Resilienzforschung (LIR) in Mainz. Dort arbeiten verschiedene Disziplinen daran, die Mechanismen der Resilienz zu verstehen und damit auch in Interventionen zu übersetzen. Wie würden Sie in einem Satz Resilienz definieren?

Resilienz bezeichnet die Aufrechterhaltung oder schnelle Rückgewinnung der psychischen Gesundheit in Phasen von Stress oder widrigen Lebensereignissen.

Resilienz ist nicht nur, wie allgemein oft angenommen wird, die Widerstandsfähigkeit gegen Stressoren und Widrigkeiten, sondern ein aktiver Anpassungsprozess. Der Prozess der digitalen Transformation ist für viele Menschen mit Veränderungen und Herausforderungen verbunden, denn dieser Wandel geht auch mit Stressoren einher. Welche Faktoren – seien es Einstellungen oder Fähigkeiten – können die Entwicklung von Resilienz bei Individuen und damit deren Anpassungsfähigkeit an den (digitalen) Wandel begünstigen?

Resilienz ist in der Tat ein aktiver Prozess, bei dem eine Vielzahl kognitiver Faktoren eine begünstigende Rolle spielen. Dazu gehört zunächst einmal eine positive Grundeinstellung gegenüber dem digitalen Wandel: Menschen, die nicht nur das Negative, sondern auch positive Aspekte wahrnehmen und diese auch nutzen können, sind resilienter als Menschen, denen dies schwerfällt. Wer den digitalen Wandel nicht als etwas Bedrohliches, sondern als eine Chance oder Herausforderung ansieht, wird ebenfalls besser damit umgehen können. Ein wichtiger Resilienzfaktor ist auch die soziale Interaktion, also die gegenseitige Unterstützung bei der Bewältigung des gesellschaftlichen Wandels. Wenn Menschen sich im Digitalisierungsprozess gegenseitig helfen, kann das ihre Selbstwirksamkeitserfahrung befördern und damit auch ihre Resilienz positiv beeinflussen. Dabei ist wichtig, zu verhindern, dass Digitalisierung Einsamkeit fördert und bestimmte Menschen und soziale Gruppen ausschließt. Dann kann die Resilienz doppelt gefährdet sein.

In unserer Studie haben wir fünf Schutzfaktoren identifiziert, die Individuen helfen, Veränderungen der eigenen Lebenswelt durch die digitale Transformation zu antizipieren und darauf proaktiv zu antworten: eine optimistische Einstellung, eine reflektierte Einschätzung der eigenen Kompetenz, die Akzeptanz gegenüber zukünftig steigenden Anforderungen, die Übernahme von Verantwortung, mit dem Wandel Schritt zu halten, und eine gewisse mentale Stabilität gegenüber diesem Anpassungsdruck. Wir sehen, dass diese Schutzfaktoren sehr unterschiedlich in der Gesellschaft verteilt sind. Welche Erkenntnisse zu soziodemografischen Unterschieden in der Resilienzfähigkeit sind Ihnen aus Ihrer Arbeit bekannt? Woher kommen diese Unterschiede?

Resilienz ist immer auch eine soziale Frage. So zeigen viele Studien, dass Menschen mit geringerer Bildung oder mit geringerem sozioökonomischem Status weniger resilient sind. Die Ursachen sind vielfältig. So haben Menschen mit geringerer Bildung und geringeren finanziellen Möglichkeiten beispielsweise weniger Zugang zu Informationen und Hilfsangeboten und leiden aufgrund ihres Kompetenzdefizits auch mehr unter dem digitalen Anpassungsdruck. Junge Menschen zeigen zwar eine höhere digitale Kompetenz, stellen gleichzeitig aber auch eine Risikogruppe dar, da sie dem Druck durch eine zunehmende Digitalisierung sozialer Beziehungen oft nicht gewachsen sind.

Durch die Corona-Pandemie konnten wir einen deutlichen Digitalisierungsschub im Leben der Menschen beobachten: der Zugang zur digitalen Welt und die Nutzung digitaler Geräte und Anwendungen hat sich innerhalb kürzester Zeit intensiviert. Gleichzeitig sind die Kompetenzen im Umgang mit dieser Welt nicht im gleichen Tempo gewachsen. Auch sehen wir, dass sich immer mehr Menschen wünschen, öfter auch einmal bewusst offline zu sein – vor allem in den jüngeren Generationen ist dieser Wunsch ausgeprägt. Wie schätzen Sie diese Entwicklungen und ihre Auswirkungen auf die mentale Gesundheit und Belastbarkeit der Menschen ein?

Die zunehmende Digitalisierung unseres Lebens ist immer zugleich Chance und Risiko. Wenn sich Online- und Offline-Zeiten die Waage halten, kann die Digitalisierung unser Leben und unsere Zukunftschancen extrem befördern. Der Wunsch nach bewussten Offline-Phasen ist demnach gesund und kann verhindern, dass die Kontrolle über das Verhalten im digitalen Raum verloren geht – bis hin zur Entwicklung von Suchterkrankungen. Wer merkt, dass der Aufenthalt im digitalen Raum kontinuierlich steigt und längere Offline-Phasen als unangenehm erlebt werden, sollte sich Hilfe suchen.

Am Leibniz-Institut versuchen Sie nicht nur, Resilienz-Mechanismen zu verstehen, sondern auch, Interventionen aus diesen Erkenntnissen abzuleiten. Welche Empfehlungen würden Sie den Menschen mitgeben, um die eigene Resilienz im digitalen Wandel zu stärken?

Die eigene Resilienz im digitalen Wandel kann sicherlich am besten dadurch gestärkt werden, dass man die eigenen Kompetenzen verbessert und die digitalen Möglichkeiten klug nutzt. Dies fördert das Selbstwirksamkeitserleben. Gleichzeitig hilft die Akzeptanz des unaufhaltsamen digitalen Wandels, nicht zu stark von negativen Gefühlen gegenüber der Digitalisierung beherrscht zu sein, die jeden Wandel behindern. Digitalisierung führt aber auch dazu, dass wir uns immer weniger bewegen, sodass jeder auf seine körperliche Fitness, auf ausreichenden Schlaf und gesunde Ernährung achten sollte. Auch hierzu können digitale Angebote genutzt werden, die Informationen und Anleitungen für einen gesunden Lebensstil geben.

Wir sind überzeugt, dass die Verantwortung für einen resilienten Umgang mit den Herausforderungen, die der digitale Wandel an die Menschen stellt, nicht allein auf den Schultern jedes bzw. jeder Einzelnen liegen darf. Was würden Sie Entscheider*innen aus der Politik, aber auch aus der Wirtschaft mitgeben? Was können diese Akteur*innen tun, um die Resilienz unserer Gesellschaft im digitalen Wandel zu stärken?

Die Resilienz zu fördern, ist niemals nur Aufgabe des jeweils einzelnen, sondern immer auch eine gesellschaftliche Aufgabe. Wir sprechen auch von Verhaltens- bzw. Verhältnisprävention. So ist wichtig, dass in der Gesellschaft die Verhältnisse so gestaltet werden, dass Menschen in Lebenswelten leben, die die Resilienz fördern. In Bezug auf den digitalen Wandel ist insbesondere die Vermittlung digitaler Kompetenzen und entsprechender Anleitungen essenziell, ebenso wie der Zugang für alle bzw. die Motivationsförderung, sich dem digitalen Wandel nicht zu verschließen. Die Digitalisierung darf nicht die sozialen Ungleichheiten weiter befördern. Auf Hilfsangebote bei Suchtentwicklungen im Rahmen digitaler Nutzung sollte auch digital hingewiesen werden.