„Die Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Wirtschaft birgt das größte Potential.“

Interview mit Prof. Dr. Philip Meissner zum Kapitel „Digitaler und grüner Wandel“ im D21-Digital-Index 2022/2023
Porträt von Philip Meissner mit einem schwarz-weißen Malerei-Filter.

Derzeitige Narrative zum Thema Digitalisierung und Nachhaltigkeit konzentrieren sich vor allem auf den negativen Einfluss der Digitalisierung auf die ökologische Nachhaltigkeit – der Stromverbrauch von Servern, Ressourcen wie Seltene Erden, die in die Produktion von digitalen Geräten fließen, Elektroschrott, der gesteigerte Konsum durch digitale Plattformen. Immerhin 35 Prozent der Bürger*innen glauben, die Digitalisierung habe einen eher negativen Effekt auf Umwelt und Klima. Wie legitim sind die Befürchtungen, die in diesen Narrativen mitschwingen? Behindert die digitale Transformation den grünen Wandel wirklich in dem hier suggerierten Ausmaß?

Aus meiner Sicht sind digitale Technologien nicht Hindernis, sondern vielmehr der zentrale Schlüssel für die Dekarbonisierung unserer Wirtschaft und Gesellschaft. Dabei muss man diese Technologien allerdings breiter denken als nur Cloud, Internet oder E-Mail. Es gibt rund um künstliche Intelligenz, neue Technologien für die Energieerzeugung und Mobilität, sowie neue Verfahren für die Produktion von Nahrungsmitteln enorme Möglichkeiten für den grünen Wandel durch Technologie. Selbstverständlich gibt es Punkte, die hierbei beachtet werden müssen, wie der massive Ausbau erneuerbarer Energien zum Betrieb von Rechenzentren oder das Recycling von Technologiekomponenten. Diese Elemente für eine nachhaltige Wirtschaft gelten jedoch nicht nur für digitale Technologien, sondern für die gesamte Wirtschaft und ihre Teilbereiche, also beispielsweise auch für die Mode, die Land- oder die Bauwirtschaft. Ich will sagen: die beschriebenen Probleme sind nicht beschränkt auf die digitale Wirtschaft. Wir benötigen für die gesamte Wirtschaft inklusive des Bereichs der digitalen Zukunftstechnologien erneuerbare Energien und grünen Wasserstoff, um zukünftig eine grüne und wettbewerbsfähige Wirtschaft zu haben. Je schneller uns dies gelingt, desto besser.

Im letzten Jahr haben mit 34 Prozent fast genauso viele Menschen angegeben, dass die Digitalisierung einen eher positiven Einfluss auf Umwelt und Klima hat. Auch das European Center for Digital Competitiveness beschäftigt sich vor allem mit den Chancen, die in der digitalen Transformation für den Grünen Wandel liegen. Vor allem in Technologien für einen besseren Umweltschutz (GreenTech) sehen Sie große Chancen. Können Sie das etwas mehr für uns ausführen: Wo genau liegen die Chancen? Und was muss passieren, damit diese auch zum Tragen kommen?

Green Tech umfasst sämtliche Technologien zur Dekarbonisierung unserer Wirtschaft. Diese neuen Technologien ermöglichen es, Fortschritt in unseren Lebensbedingungen mit einer nachhaltigen Wirtschaft zu kombinieren. Es gibt hier eine ganze Reihe von Anwendungsfeldern. Vertical Farming zum Beispiel benötigt im Vergleich zu konventionellen Anbaumethoden 99 Prozent weniger Fläche, 75 Prozent weniger Dünger und 95 Prozent weniger Wasser. Bei neuen Methoden zur Herstellung von Fleisch gibt es ähnliche Potentiale. Bei Clean Meat sind zudem viele europäische Unternehmen führend. Hierbei wird Fleisch aus Zellen im Labor gezüchtet. Dabei entsteht Fleisch, wie wir es kennen, nur mit bis zu 96 Prozent weniger Treibhausgasemissionen. Außerdem werden im Moment rund 80 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche für die Produktion von Fleisch genutzt. Hierbei entstehen aber nur 20 Prozent der Kalorien. Diese freiwerdenden Flächen anders zu nutzen, ist eine enorme Chance.Auch im Bereich erneuerbarer Energien, wie etwa bei der Herstellung von grünem Wasserstoff durch Solarenergie oder beim Bau von Häusern mit neuen Materialien wie Holz, gibt es große Fortschritte. Ein anderes Beispiel ist das autonome Fahren. Im Augenblick sind unsere Autos circa 95 Prozent der Zeit geparkt. Wenn Autos mithilfe künstlicher Intelligenz autonom fahren können, könnten wir die gleiche Mobilität mit deutlich weniger Autos realisieren. Die OECD erwartet, dass dies beispielsweise in einer typischen europäischen Stadt mit nur 10 Prozent der bisherigen Fahrzeuge möglich ist.

Gefragt, wer den größten Hebel beim Thema ökologische Nachhaltigkeit und Digitalisierung habe, konnten die Bürger*innen nicht klar eine*n Akteur*in identifizieren: Auf Wirtschaft, Politik und die Bürger*innen selbst wird das Handlungspotenzial relativ gleich verteilt. Nur die wissenschaftliche Forschung bekommt einen etwas deutlicheren Zuspruch. Auch bei der Identifikation von wirkungsvollen Maßnahmen tun sich die Bürger*innen schwer: Als wirkungsvollste Maßnahme liegen politische Anreize oder Förderprogramme, Investitionen in Forschung, Selbstverpflichtung der Industrie sowie politische Regulation beinah gleichauf. Nur internationale Abkommen werden etwas seltener als wirkungsvoll angesehen. Ist diese Einschätzung Ihrer Ansicht nach zutreffend, oder gibt es durchaus Unterschiede in der Hebelwirkung dieser Akteur*innen und Maßnahmen? Wie bewerten Sie die Einflussmöglichkeiten dieser Akteur*innen und wo liegen Ihrer Meinung nach jeweils die größten Hebel?

Zunächst einmal freue ich mich sehr, dass der Wissenschaft ein so großes Potential bescheinigt wird. Im Fall von BioNTech haben wir eindrucksvoll gesehen, wie auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse Lösungen für die größten Probleme unserer Zeit entwickelt werden können. Allerdings ist hierfür nicht nur die Wissenschaft selbst nötig, sondern auch immer die Überführung dieser Erkenntnisse in ein Produkt, im Fall von BionTech eben die mRNA Technologie in einen Impfstoff gegen COVID-19. Genau bei diesem Transfer, also der Kommerzialisierung von Technologie sind wir im internationalen Vergleich noch zu schlecht. Um dies zu ermöglichen ist vor allem ein Zusammenspiel von Wirtschaft und Wissenschaft gefragt, sodass neue Erkenntnisse in Start-ups oder in der Industrie genutzt und in Produkte verwandelt werden können. An dieser Schnittstelle sehe ich das größte Potential. Natürlich ist auch die Politik gefragt. Am Beispiel der USA sehen wir gerade, wie durch den Inflation Reduction Act sehr wirkungsvoll die dortigen Firmen bei der grünen Transformation unterstützt werden. In Europa brauchen wir aus meiner Sicht jedoch häufig eher weniger als neue Regulierung, damit Innovation entstehen und vor allem auch hier in Europa zu neuem Wohlstand und Arbeitsplätzen führen kann. Nehmen wir das Beispiel Clean Meat: Der Verkauf dieser Produkte ist in Europa noch verboten, in den USA und Singapur bereits erlaubt. Im Moment haben wir in diesem Feld noch europäische Champions auf Weltniveau – ohne einen eigenen europäischen Markt für ihre Produkte könnten diese aber bald in die USA umsiedeln.

Jede*r Fünfte ist überzeugt, dass jede*r einzelne auch einen entscheidenden Beitrag zu einer nachhaltigeren Digitalisierung leisten kann – gleichzeitig würde es aber auch einem substanziellen Anteil der Bürger*innen schwerfallen, das eigene digitale Verhalten zum Wohle der Umwelt zu ändern. Die Mehrheit würde beispielsweise ein umweltfreundlicheres Produkt nicht wählen, wenn es mehr kosten würde. Das Joint Research Centre der EU warnt davor, dass zwar die Bevölkerung in der Breite wenig selbst tun könne, man sie aber deshalb nicht als wichtige Zielgruppe vernachlässigen dürfe, denn ohne ihre Akzeptanz werde die Zwillingstransformation nicht gelingen. Gerade die Übergänge könne man nicht nur von oben nach unten durchsetzen. Wo sehen Sie die Rolle der Bürger*innen? Also wie können Sie und ich uns als Privatpersonen mit unserem digitalen Verhalten einbringen? Und wie können Politik und Wirtschaft dabei unterstützen, dass die Gesellschaft sich stärker für das Gelingen der Transformation engagiert?

Hier gibt es tatsächlich eine starke Diskrepanz. Oft sagen wir, dass uns Nachhaltigkeit sehr wichtig ist  wenn es dann allerdings um die tatsächliche Kaufentscheidung geht, handeln wir anders. Ich glaube nicht, dass Nachhaltigkeit Luxus sein sollte und auch nicht sein muss. Wir entscheiden uns für neue und nachhaltige Produkte, wenn diese so gut (oder besser) und vergleichbar teuer sind wie die Alternativen, siehe Tesla. Für diese Produkte brauchen wir eine Mischung aus neuer Technologie und einem schnellen Wachstum dieser Märkte, damit die Produkte immer günstiger und damit auch erschwinglich werden. Solartechnologie ist beispielsweise seit 2010 um fast 90 Prozent günstiger geworden. Um diese Transformation zu ermöglichen, brauchen wir die richtigen Rahmenbedingungen. Hier können Privatpersonen sowohl bei Wahlen als auch im eigenen Konsumverhalten direkt Einfluss nehmen.

Die eingangs diskutierten Chancen bewegen sich alle im Sichtraum derzeitiger Möglichkeiten und Entwicklungen. Ihr Einfluss ist zwar nicht von der Hand zu weisen, doch mit Blick auf die schiere Geschwindigkeit, mit der der Klimawandel voranschreitet und tiefgreifende, unumkehrbare Folgen für unseren Lebensraum nach sich zieht, liegt die Frage nahe: Reichen diese technologischen Möglichkeiten aus oder braucht es nicht vielmehr einen wirklichen Gamechanger? Und wie könnte ein solcher technologischer/digitaler Gamechanger im Kampf gegen den Klimawandel aussehen?

Aus meiner Sicht ist Technologie die größte Chance, die wir haben, um den Klimawandel zu stoppen. Ich glaube nicht, dass wir einen wirklichen Gamechanger brauchen, wir sollten vielmehr auf die Tatsache setzen, dass sich Technologie exponentiell weiterentwickelt, und so eine ganze Reihe von bahnbrechenden neuen Technologien in rasanter Geschwindigkeit entstehen, die eine nachhaltige Wirtschaft ermöglichen.Es dauerte beispielsweise 12 Jahre und kostete über 3 Milliarden Dollar, das erste Genom zu entschlüsseln. Im Jahr 2003 war das Projekt beendet. Hätte man die Entschlüsselung in diesem Jahr gestartet, wäre das Projekt in weniger als einem Jahr für 50 Millionen Dollar abgeschlossen worden. 2022 ist eine Entschlüsselung laut der Firma Ultima Genomics in weniger als 20 Stunden und für 100 Dollar möglich. Wenn wir viel konsequenter als bisher auf neue digitale Technologien setzen, sie fördern und die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass sie schnell in Deutschland und Europa etabliert werden können, haben wir die Chance, nicht nur einen großen Beitrag gegen den Klimawandel zu leisten, sondern auch die Basis für unseren Wohlstand und neue Arbeitsplätze für die nächsten Jahrzehnte zu legen.

Gibt es etwas, das wir Sie nicht gefragt haben, das Sie uns aber unbedingt noch mit auf den Weg geben möchten?

Eine Frage, die mir vielleicht fehlt, wäre: Was würde Sie optimistisch für die Zukunft machen? Meine Hypothese wäre: Ergebnisse! Projekte aus Politik und Wirtschaft, die schnell umgesetzt werden und Wirkung entfalten. Andersherum wäre dann die Frage, was schnelle Ergebnisse am meisten behindert. Die fehlende Digitalisierung in der deutschen Verwaltung und die langen bürokratischen Prozesse bremsen aus meiner Sicht vieles aus. Hier sollten wir schnell von der extrem digitalen Verwaltung beispielsweise in der Ukraine oder Estland lernen und diese Systeme in Deutschland sumsetzen. Wie Sie oben richtigerweise gesagt haben, haben wir im Kampf gegen den Klimawandel keine Zeit zu verlieren.

Das Interview führte

Porträt von Sandy Jahn

Sandy Jahn, Referentin Strategic Insights & Analytics