Lena-Sophie Müller | zuerst veröffentlicht im Behörden Spiegel, Mai 2016
Das moderne Bauchgefühl
Können Sie mit Geld umgehen und gut einschätzen, wie viel eine Ware oder ein Dienst Wert ist? Sind Sie neugierig, vielleicht sogar waghalsig oder setzen Sie lieber auf Sicherheit und überdenken vieles zunächst? Egal, welcher Typ Sie sind, wenn Entscheidungen nicht rational getroffen werden können, wo die Zeit knapp oder die Situation neu ist, können Sie sich auf ihr Bauchgefühl verlassen. Doch, ist Ihr Bauchgefühl noch zeitgemäß?
Normalerweise können wir uns auf unser Bauchgefühl verlassen. Es ermöglicht, basierend auf Erfahrung und einfacher Faustregeln, Entscheidungen intuitiv zu treffen. Gleiches gilt für die Einschätzung von Situationen für andere, beispielsweise Kinder, Jugendliche oder ältere Angehörige. Im Internet fehlt diese Umsicht den meisten von uns noch. Die Regeln der digitalen Welt zu verstehen, ist jedoch wichtig, denn die durch die Digitalisierung ausgelösten gesellschaftlichen Veränderungen sind bereits in vollem Gange.
Jede Zeit hat ihre Herausforderung – Gestaltung einer digital selbstbestimmten Gesellschaft ist unsere
Wir stehen an einem gesellschaftlich-technologischen Wendepunkt. Digitalisierung zwingt uns komplexer zu denken, da sie alle Lebensbereiche gleichzeitig erreicht und viele dieser Bereiche neu vernetzt, unsere Arbeitsweisen, Lebenswandel und Werte. Wer nicht ankommt in der Welt des Digitalen, wer die Regeln nicht verstehen lernt und die Chancen nicht für sich zu nutzen weiß, wird im 21. Jahrhundert zunehmend benachteiligt sein. Und das gilt nicht nur für den Jugendlichen, der digitale Selbstbestimmtheit als Voraussetzung für einen gelungenen Start ins Berufsleben benötigt, sondern in gleichem Maße auch für ältere Menschen. Gerade die am wenigsten erreichte Nutzergruppe, die sogenannten „außenstehenden Skeptiker“, zu denen rund 27 Prozent der deutschen Bevölkerung zählen, könnte im Alltag oft in besonderem Maße von der Digitalisierung profitieren, weil sie ihnen ein wesentlich erhöhtes Maß an längerer Unabhängigkeit – bspw. durch den Online-Einkauf von Lebensmitteln und bessere Koordinierung von medizinischer Betreuung – ermöglicht. Auch das soziale Umfeld profitiert, denn der regelmäßige Kontakt zu Kindern, Enkeln und Freunden ist über Dienste wie WhatsApp und Skype sehr viel einfacher, sogar über große Distanzen, aufrecht zu erhalten.
Vieles, was der jungen Generation durch das Aufwachsen im Umfeld von Internet und mobiler Kommunikation spielerisch von der Hand geht, müssen sich ältere Generationen mühsam aneignen. Deswegen sind die Jüngeren aber nicht automatisch digital kompetentere Mediennutzer, denn Medienkompetenz bedeutet nicht nur technische Kompetenz, und sie bedeutet außerdem nicht nur, dass wir digitale Inhalte mit Bedacht und Umsicht konsumieren. Wir werden zunehmend auch zu (Co-)Produzenten von digitalen Inhalten und zu Anbietern internetbasierter Dienstleistungen. Wir müssen lernen, mit diesen Möglichkeiten verantwortungsvoll umzugehen – uns interessieren, lebenslang weiterbilden. Dazu braucht es neben Technikkompetenzen auch Meinungsbildungs-, Sozialkompetenzen und ein gesundes Rechts- und versiertes Datenbewusstsein im Netz.
Es braucht ein digitales Bauchgefühl
Die Untersuchungen der Initiative D21 belegen seit mehreren Jahren, dass digitale Selbstbestimmtheit strukturell maßgeblich durch das Bildungsniveau und die erworbene Kompetenz bestimmt wird. Angesichts der fortschreitenden Digitalisierung aller Lebensbereiche darf digitale gesellschaftliche Teilhabe aber keine Frage von Bildung, Alter, Wohnort, Einkommen und Geschlecht sein. Am wichtigsten ist es deshalb, ein Bewusstsein für den umfassenden gesellschaftlichen Wandel zu schaffen, die Chancen der Digitalisierung zu thematisieren und die Offenheit der Bevölkerung im Hinblick auf digitale Themen zu fördern. Um eine nachhaltige Wirkung zu erzielen, bedarf es für diese Aufgabe ein Zusammenwirken aller gesellschaftlicher Akteure – der Politik und Verwaltung für die notwendigen Rahmenbedingungen, der Bildungsinstitutionen und Zivilgesellschaft für Aufklärung und Wissensvermittlung individueller Kompetenzen.
Daneben steht aber auch der Einzelne als Bürger, als Arbeitnehmer, als Verbraucher, als Elternteil in der Verantwortung des Aufbaus seiner eigenen digitalen Selbstbestimmtheit. Es geht um die Teilnahme an der – zunehmend digitalen – Gesellschaft und um die Fähigkeit sich selbstbestimmt im Internet zu bewegen. Und nicht zuletzt um die Einschätzung von Gefahren für sich selbst und Schutzbefohlenen. Ebenso wie uns als Kinder einfache Faustregeln („geh nicht mit Fremden mit…“) durch unsichere Situationen leiteten, benötigen wir diese Richtlinien auch für digitale Verhaltensmuster („klick nicht auf fremde Links…“). Für das souveräne Verhalten des Einzelnen in der digitalen Welt folgt daraus, dass wir entweder die notwendigen Informationen und das Wissen für rationale Entscheidungen benötigen, oder aber lernen müssen, unser Bauchgefühl – wie in der analogen Welt – auch in der digitalen Welt sicher einzusetzen.