Im Wandel liegt die Chance

Herausforderungen und Vorteile von Home Working bei KPMG – Dr. Vera-Carina Elter im Interview.

Die Initiative D21 hat im Rahmen der Studie D21-Digital-Index 2020 / 2021 das Thema Homeoffice detaillierter untersucht und festgestellt, dass im Jahr 2020 doppelt so viele Berufstätige wie im Vorjahr mobil oder von zu Hause aus gearbeitet haben. Die KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft ist Mitglied der Initiative und Förderer der Studie und hat jetzt, in enger Abstimmung mit der Geschäftsstelle der Initiative D21, die Veröffentlichung der Studie zum Anlass genommen, um sich über die praktischen Erfahrungen von KPMG mit Home Working auszutauschen.

Lena-Sophie Müller: Unsere D21 Studie hat gezeigt, dass 38 Prozent der Befragten seit Einsetzen der Corona-Krise mehr Homeoffice nutzen als zuvor – bei den Vollzeitkräften sind es sogar 44 Prozent. 34 Prozent der Befragten arbeiten durch Corona erstmalig in Homeoffice. Was ist Ihre Einschätzung für KPMG: Bewerten die Mitarbeitenden die neuen Möglichkeiten des hybriden Arbeitens eher positiv oder negativ? Wie nehmen Sie als Vorständin diese Phase wahr?

Vera-Carina Elter: Für KPMG ist Home Working generell kein neues Thema. Als Beratungs- und Wirtschaftsprüfungsunternehmen haben wir schon im Februar 2019 in unserem Unternehmen eine Home-Working-Regelung eingeführt, die es unseren Mitarbeitenden erlaubt, in Abstimmung mit dem Vorgesetzten pro Woche bis zu 2 Arbeitstage im Home Working zu arbeiten, ergänzend zum Arbeiten im Büro oder beim Kunden. Aus unserer Erfahrung mit dem Thema wissen wir, dass Vertrauen in unsere Mitarbeitenden ein wesentlicher Punkt ist, damit Home Working überhaupt funktioniert.

Zu Beginn der Kontaktbeschränkungen im März haben wir bei KPMG Home Working dann zur Regel gemacht. Die erforderliche Infrastruktur für das Arbeiten von zu Hause haben wir sehr schnell hochgefahren. Bereits am 18. März 2020 konnten sich 11.000 Mitarbeitende gleichzeitig in unsere Systeme einwählen. Technisch war und ist die KPMG sehr gut aufgestellt.

Aus den vielen Gesprächen, die ich mit unseren Mitarbeitenden und unseren Führungskräften führe, weiß ich aber, dass Technik nur ein Aspekt ist. Insbesondere seit Herbst merken wir, dass unsere KollegInnen zunehmend die emotionalen Belastungen der Pandemie spüren. Unsere v. a. jungen Mitarbeitenden, die vielfach direkt nach ihrer akademischen Ausbildung bei uns beginnen und teilweise in neue Städte ziehen, kämpfen zum Beispiel mit der Isolation. Für die Einarbeitung brauchen die neu eingestellten Mitarbeitenden den intensiven Austausch im Team, den sie nun teilweise virtuell organisieren müssen. Unsere Führungskräfte managen die „virtuelle Führung“ gut, aber haben auch den Bedarf, sich darin weiterzubilden.

Wir sehen, dass wir auch langfristig virtuell zusammenarbeiten werden und überlegen uns auch weiterhin neue Maßnahmen, wie wir am besten mit diesen Herausforderungen umgehen können. Ich denke, dass Mitarbeitende sich künftig bewusster entscheiden werden wollen, wann sie wo arbeiten: Für z. B. „konzentrierte Konzeptarbeit“ werden sie von zu Hause arbeiten, für Interaktion im Team, Netzwerken, gemeinsames Lernen sowie für Innovationsthemen ins Büro gehen und in unseren Projekten freuen wir uns darauf, wieder gemeinsam beim Kunden vor Ort arbeiten zu dürfen.

Lena-Sophie Müller: Welche Vor- und Nachteile sehen Sie gerade für Mitarbeitende mit Kindern im Homeoffice – auch über die Zeit der Corona-Pandemie hinausgehend? Wir haben in unserer Studie nochmals zwischen Männern und Frauen unterschieden und festgestellt, dass Frauen über keine Steigerung der Lebens- und Arbeitsqualität durch Homeoffice berichten, wenn zuhause ein Kind unter 18 Jahren betreut wird. Können Sie das bestätigen?

Vera-Carina Elter: Unsere Mitarbeiter*innenbefragung hat uns zu diesem Aspekt dieses Jahr einen interessanten Einblick geliefert: Erstmalig haben wir gefragt: Haben Sie eine Betreuungsverpflichtung? Man hätte nun erwartet, dass diejenigen mit Betreuungsverpflichtungen das gesamte Jahr 2020 als deutlich schwieriger empfunden haben als diejenigen ohne. Interessanterweise war es genau anders herum: Unsere KollegInnen mit Kindern haben das letzte Jahr deutlich positiver wahrgenommen als die Mitarbeitenden ohne Betreuungsverpflichtungen. Wir werden die Ergebnisse noch detaillierter auswerten, aber mein erster Eindruck ist, dass Kinder in derartigen Krisenzeiten auch Halt geben bzw. eine positive Ablenkung darstellen können. Insgesamt sehe ich die Digitalisierung für alle auch als eine Chance in Bezug auf die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben, sowohl durch die Reduzierung von Reise- und Rüstzeiten als auch aufgrund der Flexibilisierung von Arbeitszeit und -ort.

Lena-Sophie Müller: Diese bessere Vereinbarkeit – ist dies etwas, was man über Pandemie heraus beibehalten möchte?

Vera-Carina Elter: Wir werden bei KPMG nach aktuellem Stand bei unserer ausgewogenen freiwilligen Home-Working-Regelung von bis zu zwei Tagen bleiben, die es allen ermöglicht, je nach Art der Arbeit beim Kunden, im Büro oder als komplementärem Arbeitsort von zu Hause aus zu arbeiten. Wichtig ist, dass wir die Arbeit beim Kunden nicht aus dem Auge verlieren. Unsere Leistungen werden beim und für den Kunden erbracht und deshalb ist uns die Nähe zu den Kund*innen vor Ort sehr wichtig. Unsere Home-Working-Regelung scheint mir bei unserem Geschäft die Themen Flexibilität, Austausch in den Teams und Interaktion mit dem Kunden gut auszubalancieren.

Lena-Sophie Müller: Auch spannend ist der Blick auf die Führungskräfte. „Führung by remote“ ist etwas, was noch nicht so umfangreich praktiziert werden musste. Die Studie zeigt, dass 25 Prozent der Personen mit Führungsverantwortung möchten, dass ihre Mitarbeitenden nach der Corona-Krise mehr im Homeoffice arbeiten als vorher. 53 Prozent der Mitarbeitenden wünschen sich mehr Homeoffice – auch in Zukunft. Wie schätzen die Führungskräfte bei KPMG die neue Arbeitswelt ein?

Vera-Carina Elter: Wir haben festgestellt, dass sich bei der virtuellen Führung von Mitarbeitenden neue Herausforderungen für die Vorgesetzten ergeben. Um unsere Führungskräfte zu unterstützen, hat KPMG gemeinsam mit unseren 12 HR-Coaches Leadership Workshops für virtuelle Führung aufgesetzt. Diese waren umgehend ausgebucht, d. h. der Bedarf ist sehr groß. Unsere Coaches bieten darüber hinaus für alle Mitarbeitenden Sprechstunden an und haben im Rahmen dieser schon viel unterstützt. Zur Arbeit gehört auch, dass man voneinander lernt. Bei uns geht es stark um Zusammenarbeit, aus der man gemeinsam lernen kann. Diese virtuell zu organisieren, war und ist eine Veränderung. Wir haben auch gelernt, dass das Argument „man muss vor Ort sein, sonst geht es nicht“ nicht mehr pauschal gilt.

Lena-Sophie Müller: Das ist meiner Meinung nach auch die große Chance am Corona-Jahr 2020, dass Erfahrungen gemacht wurden, also Dinge, die vorher nur Theorie waren, wurden im Jahr 2020 erfolgreich ausprobiert. Aber man merkt auch, wo die Grenzen der virtuellen Zusammenarbeit sind.

Vera-Carina Elter: Absolut, wir haben vielschichtige Erkenntnisse erlangt. Blicken wir mal nur auf die Zusammenarbeit mit unseren Kund*innen: Unsere Kund*innen haben gesehen, dass es auch Vorteile geben kann, wenn die Berater*innen nicht mehr täglich vor Ort sind. Dennoch konnten wir feststellen, dass der persönliche Austausch und der damit verbundene Aufbau von Vertrauen am besten physisch vor Ort stattfinden. Wir haben zwei gegenläufige Effekte: Einige Kund*innen werden den Vor-Ort-Einsatz der Berateri*innen nicht mehr durchgängig sehen bzw. beauftragen wollen, andere hingegen schätzen den persönlichen Austausch nun umso mehr. Das heißt, teilweise werden sich Arbeiten von den Kund*innen in die Niederlassung verlagern und gleichzeitig wird das Home Working stärker genutzt werden und somit die Zeiten in der Niederlassung reduzieren.

Lena-Sophie Müller: Da möchte ich gerne nochmals nachfassen – kann es aus Kund*innensicht ein Vorteil sein, auf Vor-Ort-Anwesenheit der Berater*innen zu verzichten, da sie letztendlich inhaltlich mehr Beratung mit dem verfügbaren Budget einkaufen können?

Vera-Carina Elter: Ja, das könnte sein. Aber die Zusammenarbeit mit den Kund*innen ist immer eine Vertrauenssache. Insbesondere bei Neukund*innen müssen wir erst beobachten, wie sich die Kund*innenbeziehung entwickelt und ein persönliches Netzwerk und Vertrauen aufgebaut wird – das ist für beide Seiten wichtig und wird uns in der Regel nur im direkten Austausch mit den Kund*innen gelingen.

Lena-Sophie Müller: Durch die Pandemie wird sich die Arbeitsweise verändern. Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für KPMG mit einem größeren Anteil an Homeoffice?

Vera-Carina Elter: Wir brauchen auch für die virtuelle Kommunikation und Zusammenarbeit Guidance bzw. eindeutige Regeln, da viele Mitarbeitende im Home Working das Gefühl haben, dauerhaft erreichbar sein zu müssen. An diesen arbeiten wir gerade. Auch sehen wir, dass vor allem der persönliche Austausch und das Netzwerken zu kurz kommen und nicht über rein virtuelle Formate aufrechterhalten werden können. Wir haben z. B. für unsere 13.500 Mitarbeitenden dieses Jahr eine digitale Weihnachtsfeier organisiert. Alles hat gut geklappt, unsere klassischen physischen Zusammenkünfte und Netzwerktreffen sind und bleiben aber wichtige Bindungselemente für unsere Mitarbeitenden, die nicht komplett durch virtuelle Formate ersetzt werden können.

Lena-Sophie Müller: Mit Bezug auf die von KPMG für die Mitarbeitenden zur Verfügung gestellte Unterstützung: Mussten größere Probleme im ersten Lockdown oder danach gelöst werden?

Vera-Carina Elter: Die Umstellung hat wirklich gut funktioniert: alle restlichen Desktop-PCs wurden gegen Laptops gewechselt, Leitungen und VPN-Bandbreiten erhöht, Microsoft Teams sechs Monate früher als geplant eingeführt. Damit die Technik zu Hause auch gut funktioniert, hatten Mitarbeitende die Möglichkeit, einen externen Bildschirm und auch den Bürostuhl – sofern erforderlich – mit nach Hause zu nehmen. Auch jetzt haben wir keine großen Umstellungsschwierigkeiten, wir gehen auf die Regelungen aus März zurück und unsere Mitarbeitenden werden bevorzugt im Home Working arbeiten. Was ich aber noch hervorheben möchte: Das Büro an sich wird sich im Ergebnis dieses Corona-Jahres verändern. Es wird neue Bürokonzepte geben, bei denen Büroflächen flexibilisiert und Raumkonzepte neu gestaltet werden.

Lena-Sophie Müller: Hat sich der Pool an qualifizierten Mitarbeitenden durch Homeoffice und die Möglichkeit, remote zu arbeiten, vergrößert?

Vera-Carina Elter: Ja, ich denke, dass der Bürostandort zukünftig möglichweise anders beurteilt wird. Standortnachteile im Recruiting werden vermutlich reduziert. Damit können Unternehmen möglicherweise auf einen größeren Pool von AbsolventInnen, auch der hart umkämpften MINT-Zielgruppe, zugreifen. Allgemein können sich daraus neue Trends ergeben, z. B. dass Mitarbeitende an den Stadtrand umziehen, wo es geringere Mietkosten gibt, wenn sie nicht mehr an allen 5 Tagen in der Woche ins Büro kommen müssen. Dies ist ein Vorteil, der bleibt.

Lena-Sophie Müller: Was wird von der Corona-Pandemie bleiben? Was wird sich nachhaltig verändern?

Vera Elter: Viele Dinge habe ich schon angesprochen. Meiner Einschätzung nach wird der Gang ins Büro bewusster, und die Mitarbeitenden werden nicht mehr jeden Tag automatisch ins Büro fahren. Die Gestaltung des Büros und der Arbeit aus dem Büro heraus werden gleichzeitig auch attraktiver werden, hier sind die Arbeitgeber gefordert. Themen wie Gesundheits- und Arbeitsschutz werden auch in Zukunft eine andere Bedeutung haben. Die Chancen für lebensphasenorientierte Arbeitsmodelle, die möglich werden, wenn Arbeit unabhängig von Arbeitsort und -zeit erbracht werden kann, steigen enorm. Wir werden weniger Dienstreisen haben, was aus Nachhaltigkeits-Gesichtspunkten ein großer Vorteil ist. Durch die Nutzung von virtuellen Lernplattformen erhalten wir einen Zugriff auf einen größeren, auch globalen, Wissenspool.

Lena-Sophie Müller: Werden sich Gleichstellungsthemen verändern, wenn die Reisetätigkeit nicht mehr so umfangreich erforderlich sein wird? Umfangreiche Reisetätigkeit stellt immer noch eine Herausforderung für Frauen in bestimmten Lebensphasen in unserer Branche dar.

Vera Elter: Auf jeden Fall. Allerdings war die Krise erst einmal eine Last für viele Frauen, wie wir es auch in der Presse lesen konnten. Oft haben Frauen zurückgesteckt, wenn Kinder zu Hause betreut werden mussten, haben unbezahlten Urlaub genommen oder die Arbeitszeit reduziert. Die Chance der Krise besteht darin, dass man sich durch Virtualisierung viel mehr und breiter einbringen kann und eingeschränkte Reisemöglichkeit, z. B. durch die Familie, keine Hürde mehr darstellt. Wir arbeiten jeden Tag bei KPMG an Vielfalt- und Genderthemen. Unsere Mitarbeiterbefragungen zeigen jedes Jahr, wie wichtig diese Themen sind. Als Ergebnis der Corona-Pandemie liegt die Chance im Wandel, die Zusammenarbeit fairer und gleicher zu gestalten.