Das Interview führte Manfred Klein | zuerst veröffentlicht in der eGovernment Computing, März 2017

eGovernment Computing sprach mit der D21-Geschäftsführerin Lena-Sophie Müller über die Details der neuen Strategie und die Herausforderungen der Digitalisierung für Bürger und Unternehmen.

Frau Müller, die Initiative D21 hat es sich zur Aufgabe gemacht, den digitalen Wandel zu begleiten. Nun hat der Verein sich eine neue Strategie gegeben, um seinerseits auf diesen Wandel adäquat reagieren zu können. Welche Entwicklungen beim digitalen Wandel machten diese Anpassung notwendig?

Müller: Die Initiative D21 wurde 1999 mit dem Ziel gegründet, die digitale Spaltung der deutschen Gesellschaft zu verhindern. Damals ging es vorrangig um die Spaltung zwischen Onlinern und Offlinern. Wie unsere jährliche Studie D21-Digital-Index zeigt, nutzt inzwischen die Mehrheit der Deutschen das Internet, bei den unter 50-Jährigen ist es sogar nahezu jeder. Auch die älteren Menschen legen jedes Jahr merklich zu. Inzwischen steht die qualitative Nutzung im Vordergrund, also das kompetente und selbstbestimmte Bewegenkönnen jedes einzelnen in unserer digitalisierten Welt. Die Gesellschaft bleibt also weiterhin der Ausgangspunkt unseres Handelns, aber wir sehen heute enormen Handlungsbedarf bei dem Wissen über sowie der Einstellung zur Digitalisierung und vor allem auch bei den digitalen Kompetenzen der Bevölkerung.

Die neuen Technologien machen unser Leben in vielen Punkten sehr viel einfacher und werden daher zunehmend genutzt – von den Menschen und der Wirtschaft. Gleichzeitig wird das Leben durch den digitalen Wandel aber komplexer und erfordert mehr Nachfragen und Mitdenken. Da die Digitalisierung mit so vielen neuen Möglichkeiten einhergeht, stellen sich auch neue Fragen, beispielsweise welche Werte und Normen wir ins Digitale übertragen wollen und müssen. Wir fassen das unter dem Stichwort der digitalen Ethik zusammen und haben dazu auch gerade eine neue Arbeitsgruppe gegründet. Auch die aktuelle Debatte zu Fake News zeigt, dass bekannte Anker – hier in der Meinungsbildung – nicht mehr vollständig funktionieren.

Kritisches Betrachten von Aussagen und Quellen oder auch der vernünftige Umgang miteinander sind keine neuen Kompetenzen. Die Transformation an die Anforderungen der neuen Technologien scheint aber kaum vollzogen zu sein. Das bedeutet, die Schnelllebigkeit des Internets steht der Zeit und Mühe, die ein kritisches Quellen­studium erfordert, oft diametral gegenüber. Die Anonymität und das Fehlen des direkten Gegenübers bei digitaler Kommunikation hebelt immer wieder gängige Umgangsformen aus. Es liegt aber in der Hand der Menschen, das so nicht fortzuführen. Hierzu gehören individuelle Kompetenzen aber eben auch die Schaffung adäquater Rahmenbedingungen, um diese zum Beispiel über die ­Bildungsbiografie zu erlangen.

Genauso liegt es auch an der Gesellschaft, die digitalisierte Welt mitzugestalten und damit einhergehende Entscheidungen nicht nur geschehen zu lassen. Diese Entwicklung braucht gleichermaßen ein offenes und chancenorientiertes, aber auch reflektiertes Denken und Menschen mit guten Digitalkompetenzen, weil beides sich bedingt. Darauf arbeiten wir als Deutschlands größtes gemeinnütziges Netzwerk für die Digitalisierung bereits seit mehreren Jahren hin und haben dieses Ziel nun auch strategisch festgehalten.

Reagieren will die Initiative darauf mit neuen Themengebieten und einem neuen Handlungskreislauf. Allerdings bleibt die Beschreibung des neuen Handlungskreislaufes seltsam unpräzise. Was genau ist damit gemeint?

Müller: Um überhaupt zu wissen, worüber wir reden und wo es Handlungsbedarf gibt, erheben wir gemeinsam mit unseren Partnern jährlich Studien. Sie bieten verlässliche Lagebilder und ermöglichen neben dem Blick auf das Tagesgeschehen, Bedürfnisse, Erwartungen und Kompetenzen der Gesellschaft in Bezug auf Digitales sicher auszumachen und Entwicklungen zu verfolgen. Diese Ergebnisse nehmen wir mit in unsere sogenannten Werkstätten. Hier bearbeiten wir in Arbeitsgruppen gemeinsam mit unserem multi­perspektivischen Expertennetzwerk aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft die entstandenen Fragen und finden Lösungen. Unsere Arbeitsgruppen unterscheiden sich von anderen durch ihren multiperspektivischen Ansatz und die Tatsache, dass die Akteure sich auf Augenhöhe begegnen. Wichtig ist hier das Ausbalancieren von Interessen, immer mit Blick auf den gesellschaftlichen Nutzen und den Anspruch, drängende Themen und Fragen frühzeitig zu erkennen und ins gesellschaftliche, wirtschaftliche wie politische Blickfeld zu ­rücken.

Den so formulierten Antworten und Forderungen geben wir in öffentlichen Foren Raum, indem wir Kongresse und andere Veranstaltungen durchführen, Beiträge in verschiedenen Online- und Printmedien veröffentlichen und als kompetenter Diskussions- und Ansprechpartner den Diskurs zur Digitalisierung mitgestalten. Die in den Foren entstandenen Rückfragen und Anregungen fließen dann wiederum in die Ausgestaltung der Studien mit ein. Durch diesen Handlungskreislauf von Lageplänen – Werkstätten – Foren können wir Debatten zielführend und fern von Ideologie führen und die gesellschaftliche Entwicklung in einer sich stetig wandelnden Welt sinnvoll lenken.

Zusätzlich will die Initiative D21 das Spektrum ihrer Themengebiete erweitern. Welche Ziele sollen mit diesen neuen Gebieten erreicht werden?

Müller: Wir haben eher die Rahmen um die Themengebiete klarer gezogen und das historisch gewachsene und inzwischen thematisch sehr breite Handlungsfeld der D21 sowie dessen Unterteilung in Standort, Bildung und Vertrauen einer kritischen Prüfung unterzogen, es klarer strukturiert und aktualisiert.

Die neuen Themenfelder

  • Digitale Selbstbestimmtheit,
  • Digitale Lebenswelt und
  • Digitaler Standort

stehen für die drei Aktionsräume, die für eine chancenorientierte und motivierte Entwicklung der digitalen Gesellschaft Deutschlands beachtet werden müssen.

Zum einen muss beim Individuum selbst angesetzt werden. Es muss selbstbestimmt und digitalkompetent den Herausforderungen der Digitalisierung begegnen können – und zwar in allen Phasen des Lebens, von der Kindheit bis ins hohe Alter. Dann müssen auch die Lebenswelten digitalen Ansprüchen gerecht werden und unterschiedliche Bedürfnisse ausbalancieren können. Lebenswelten sind zum Beispiel die Arbeitswelt, die Freizeit oder auch die Schulwelt. Das Fundament einer digitalen Gesellschaft sind moderne und flächendeckende Infrastrukturen und Regeln, die das Entwicklungs­potenzial fördern.

Mit diesem differenzierten Blick können wir umfassend und strukturiert durchleuchten, was die digitale Gesellschaft braucht und was sie stärkt, aber uns auch als Organisation für Außenstehende klarer von den inzwischen vielen Mitspielern im Themenbereich der Digitalisierung abgrenzen und besser verstehbar machen.

Zum Thema digitale Selbstbestimmt heißt es, eine „digitale Gesellschaft benötigt selbstbestimmte und digitalkompetente Individuen“. Was versteht die D21 darunter und wie sollen diese erreicht werden?

Müller: Sich selbstbestimmt im Netz zu bewegen und digitalkompetent zu sein, bedeutet, sich mit dem Internet und seinen Technologien chancenorientiert und reflektiert auseinanderzusetzen, die Logiken zu verstehen oder zumindest ein digitales Bauchgefühl für einen sicheren Umgang zu entwickeln. So wie ich aus gesundem Risikobewusstsein nicht einfach unbekannte Beeren esse oder meinen Schlüssel unbedacht verteile, sollte ich auch unbekannte Informationen mit Vorsicht genießen und Passwörter sowie den Umgang mit ihnen ernstnehmen. – Eine einfache Analogie, aber da beginnt Digitalkompetenz bereits.

Kenntnisse in der Datenverarbeitung und Informationsgewinnung, der IT-Sicherheit und Lösung von IT-Problemen, der Kommunikation und im Erstellen von Inhalten sind Aspekte der Digitalkompetenz, die heute quasi zum Lebens-Equipment gehören. Sie sind notwendig, um die Chancen für sich zu erschließen und die Risiken zu erkennen, also selbstbestimmt in einer digitalisierten Welt agieren zu können. Ihr Erwerb müsste ideal­erweise sehr früh beginnen, zwingend aber muss er Bestandteil der Schulbildung sein. Und er muss von den Eltern vorgelebt und forciert werden.

Wichtig ist auch, dass dieser Kompetenzerwerb mit der steten Weiterentwicklung der Technologien ein lebenslanges Fortbilden erfordert. Denn unsere Zahlen zeigen deutlich, dass die analoge Eisscholle, auf der noch immer 18 Millionen Deutsche sitzen, immer kleiner wird. Dies führt zunehmend zu Defiziten in der demokratischen und gesellschaftlichen Teilhabe. Die richtigen Anreize – auch institutionell – zu setzen, ist wichtig. Die Motivation und der Anspruch, ein selbstbestimmtes digitalisiertes Leben zu führen, muss aber auch aus jedem selbst erwachsen.

Welche Aktivitäten und Zielsetzungen sind mit dem „Digitalen Ehrenamt“ verbunden?

Müller: Das soziale Engagement verlagert sich immer mehr ins Internet. Wir setzen uns ein, das Digitale zu nutzen, um effiziente Hilfe zu gewährleisten. Schwerpunkt seit 2015 ist dabei die Digitale Flüchtlingshilfe. Auf unserer digitalen Plattform „bunt und verbindlich“ bringen wir Unternehmen, Initiativen, Vereine und Einzelpersonen schnell und unkompliziert zusammen, um einen wirkungsvollen Beitrag für die Integration von Flüchtlingen zu leisten. Ziel ist es, das Engagement in der Flüchtlingshilfe nachhaltig zu sichern.

Viele Unternehmen sind bereit, Dienstleistungen, Sach- oder Geldspenden zur Verfügung zu stellen, haben aber oftmals keine zeitlichen oder personellen Ressourcen, um Integrationsprojekte zu konzipieren und umzusetzen. Zahlreiche Initiativen und Ehrenamtliche möchten sich wiederum zeitlich engagieren und haben Integrations­ideen, aber nicht die finanziellen oder materiellen Mittel, um diese umzusetzen. Hier setzt „bunt und verbindlich“ an und bringt die Akteure basierend auf der Logik „Ich mache X, wenn jemand mit Y hilft“ zusammen.

Das Spenden von Tablets, wenn sie für das Unterrichten von Willkommensklassen genutzt werden; 1.000 Euro für den Sportverein, wenn geflüchtete Mädchen kostenlos mittrainieren dürfen; IT-­Arbeitsplätze, wenn an ihnen Geflüchtete Deutsch lernen und Bewerbungstrainings erhalten können; Tuschkästen für ein Kunstprojekt, bei dem geflüchtete Kinder das Erlebte verarbeiten können: So unkompliziert, pragmatisch und wirkungsvoll kann Hilfe sein.