Single Digital Gateway: Sind wir ambitioniert genug für Europas Ziele?

Die EU-Verordnung zum Single Digital Gateway (SDG) ist wenig bekannt, gleichzeitig nähern sich für Deutschland die Umsetzungsfristen. Die Initiative D21 und das NEGZ haben aus diesem Anlass mit Vertreter*innen von EU, Bund und Ländern sowie aus der Wissenschaft Chancen und Herausforderungen des Vorhabens kritisch reflektiert.

Berlin, 08.09.2022. Eine einheitliche digitale Anlaufstelle der europäischen Verwaltung – das ist die Zukunftsvision hinter der EU-Verordnung zum Single Digital Gateway (SDG). Alle EU-Mitgliedstaaten – also auch Deutschland – sollen die von ihnen bereits digitalisierten Verwaltungsdienste zugleich auch EU-weit grenzüberschreitend zugänglich und abwickelbar machen. So soll es Menschen, die innerhalb von Europa von einem Land in ein anderes umziehen, ermöglicht werden, alle für sie nötigen Verwaltungsleistungen immer an einem digitalen Ort zu finden. Dieser Ort soll das bereits bestehende Portal Your Europe werden. Es wird erweitert, modernisiert und zur zentralen Anlaufstelle für die Angebote und Informationen der öffentlichen Verwaltungen aller europäischen Mitgliedsstaaten ausgebaut. In diesem Zuge soll auf nationaler Ebene auch das Bundesportal perspektivisch einen zentralen Zugang zu allen Verwaltungsdienstleistungen von Bund, Ländern und Kommunen bieten.

D21-Geschäftsführerin Lena-Sophie Müller
D21-Geschäftsführerin Lena-Sophie Müller
Das Publikum bei EY in Berlin
Das Publikum bei EY in Berlin.

Die Initiative D21 setzt sich dafür ein, das Leben der Bürger*innen durch Digitalisierung leichter zu machen. Die SDG-Verordnung ist ein hervorragendes Beispiel dafür, worauf es in diesem Zusammenhang bei der Gestaltung von digitalen Verwaltungsleistungen ankommt: Barrierearmut
für alle Bürger*innen. Aus diesem Grund war es uns ein Anliegen, diese Verordnung, von der selbst viele Verwaltungsexpert*innen nicht so genau wissen, was eigentlich hinter ihr steckt, im Kreise der D21-Mitglieder zu thematisieren. „Nicht nur für eine Metropolregion wie Berlin ist beispielsweise die Gewinnung von internationalen Fach- und Arbeitskräften von steigender Bedeutung. Der Bedarf steigt in ganz Deutschland in vielen Branchen: Elektrotechnik, Informatik, aber auch Hotellerie oder Gastronomie. Ein einfacher Zugang zu Verwaltungsleistungen und Informationen, beispielsweise zur Anerkennung von Berufsqualifikationen oder Fragen der Besteuerung, hat daher nicht nur für die Menschen selbst, sondern auch für die Wirtschaft und Politik wichtige Vorteile“, gab D21-Geschäftsführerin Lena-Sophie Müller ein konkretes Beispiel in ihrer Begrüßung zur Veranstaltung „Single Digital Gateway: Sind wir ambitioniert genug für Europas Ziele?“, die in Kooperation mit dem Nationalen E-Government Kompetenzzentrum NEGZ e. V. durchgeführt wurde. Es wurde diskutiert, wie eine gemeinschaftliche europäische Zusammenarbeit dabei helfen kann, Digitalisierungsvorhaben auch in Deutschland voranzutreiben: Wo stehen wir gerade in der Umsetzung der EU-Verordnung? Was sind aktuelle Hürden? Wo sehen wir Potenziale? Und wieso gibt es eine eigentlich gute Lösung, aber so wenig Wissen darüber?

SDG als Notwendigkeit für die digitale Transformation

SDG is not an option, it’s a priority and a necessity.
David Blanchard, EU-Kommission

David Blanchard, Referent für SDG im Direktorat für Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und kleine sowie mittlere Unternehmen bei der EU-Kommission, ist mit der Umsetzung der SDG-Verordnung beauftragt. Er machte in seiner Keynote die Relevanz des Themas deutlich. Gerade in der aktuellen Krisenzeit sei es umso wichtiger, die Digitalisierung zu nutzen, um Bürger*innen und Wirtschaft durch eine Vereinfachung der Prozesse zu entlasten. Die Bürger*innenorientierung von Verwaltungsleistungen sei außerdem ein wichtiger Aspekt, um Vertrauen in den Staat und die EU zu stärken. Die EU-Kommission sei daher sehr stringent bei der Umsetzung der Verordnung. Deutschland, so Blanchard, stelle in diesem Prozess einen zentralen Akteur dar und könne als wichtiges Land in der EU durch Vernetzung und Zusammenarbeit einen großen Beitrag für die gemeinschaftliche Umsetzung leisten. Bei der Ausarbeitung der technischen Standards der Verordnungen habe Deutschland diese wichtige Rolle bereits gezeigt und wichtige Weichen stellen können.

David Blanchard, Referent für SDG im Direktorat für Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und kleine sowie mittlere Unternehmen bei der EU-Kommission
David Blanchard, Referent für SDG bei der EU-Kommission
Moderator Christian Rupp vom NEGZ
Moderator Christian Rupp vom NEGZ begrüßte die Gäste.

Effiziente Zusammenarbeit als Priorität der länderübergreifenden Verwaltungsmodernisierung

Während sich David Blanchard also eher den Chancen des SDG widmete, setzte die anschließende Diskussionsrunde mit Christoph Harnoth (Referent im Bundesministerium des Innern und für Heimat BMI), Dr. Ralf Kleindiek (Berliner Staatssekretär für Digitales und Verwaltungsmodernisierung) und Prof. Dr. Anne Paschke (Professorin am Institut für Öffentliches Recht & Technikrecht der Technischen Universität Braunschweig) bei den bestehenden Herausforderungen in der Praxis an. Aktuell sei noch viel Arbeit nötig, wenn man die gewünschten Ziele der Verordnung in Deutschland erreichen wolle – auf Bundes- und Länderebene, wie Moderator Christian Rupp immer wieder pointiert anmahnte. Neben der Problemanalyse diskutierten die Expert*innen mit den Gäst*innen konstruktive Lösungsansätze. Dabei wurde der grundsätzliche Mehrwert der EU-Verordnung stets betont.

Prof. Dr. Anne Paschke, Professorin am Institut für Öffentliches Recht & Technikrecht der Technischen Universität Braunschweig
Prof. Dr. Anne Paschke, Professorin am Institut für Öffentliches Recht & Technikrecht der Technischen Universität Braunschweig
4 Personen stehen an zwei Stehtischen auf der Bühne und diskutieren.
Die Panelist*innen diskutierten über die SDG-Umsetzung in Deutschland.

Prof. Dr. Anne Paschke adressierte drei Ausgangsfragen, die in ihren Augen für eine konstruktive Umsetzung der SDG-Verordnung beantwortet werden müssten:

  • Was sind die Ziele, die EU, Mitgliedstaaten und die Bürger*innen mit dem SDG verfolgen? Eine digitalisierte Verwaltung, die länderübergreifend funktioniert, würde die Demokratie stärken. Hierfür sei es notwendig, Vertrauen in die Digitalisierung durch Nutzer*innenfreundlichkeit als Priorität zu sehen. Insgesamt müsse der Grundsatz gelten, dass die Volldigitalisierung der Verwaltung die Mission Europas darstellen soll.
  • Ist Deutschland ambitioniert genug, um die Digitalisierungsziele des SDG zu fördern? Paschke merkte an, dass es aktuell noch an der Bürger*innenzentrierung in der Digitalstrategie fehle.
  • Wer in unserem „Wir“ ist unter Umständen zu wenig ambitioniert für die Umsetzung der EU-Verordnung?, konkretisierte Paschke die vorangegangene Frage. In Deutschland würden die verschiedenen Ebenen – von Bund über Länder zu Kommunen – unterschiedliche Ambitionen mitbringen, die verbunden werden müssten. Erst dann könne man von einer gemeinsamen Umsetzungsambition sprechen.

Paschke schloss mit der Stellungnahme, dass nur eine volldigitalisierte Verwaltung einerseits die Nutzer*innenzentrierung gewährleisten und andererseits das Vertrauen in Staat und Verwaltung erhöhen könne. Hierzu brauche es auch die Registermodernisierung, um vollumfassende Vernetzung überhaupt herstellen zu können.

Christoph Harnoth, der in seiner Referentenrolle im BMI nationaler SDG-Koordinator für Deutschland ist, legte den Fokus auf die Kompatibilität von SDG und Onlinezugangsgesetz (OZG). Die Umsetzung von OZG und SDG seien eng miteinander verbunden und nicht trennbar:

SDG ist ein horizontales Thema – es müssen grenzüberschreitende Services zwischen den Mitgliedsländern der EU bestehen
Christoph Harnoth, BMI

Das bedeute auch, dass bei der Umsetzung des OZG dieser Anspruch des SDG jederzeit berücksichtigt werden müsse. „Zahlreiche Verfahren müssen angepasst werden, um die Voraussetzungen für das SDG zu schaffen – zum Beispiel die Registermodernisierung“, stellte auch Harnoth heraus.

Dr. Ralf Kleindiek, Chief Digital Officer (CIO) des Landes Berlin, stellte selbstkritisch ein Verbesserungspotenzial in der Kommunikation des IT-Planungsrats mit den Bundesländern fest: „Es dauert zu lange, bis Vorhaben aus Brüssel vom IT-Planungsrat angestoßen werden. Das ist ein Defizit“, gab Dr. Kleindiek an. Man könne durch schnellere und bessere Abstimmungsprozesse das SDG und OZG stärker zusammendenken, ergänzte er. Bisher habe sich zum Beispiel der Berliner Senat noch nicht umfassend mit dem SDG beschäftigt. „Die heutige Diskussion hat definitiv dazu angeregt, bisher nicht erfasste Themen beim SDG anzugehen.“ Eine Priorität der gemeinsamen Anstrengungen die SDG-Vorgaben mit der Umsetzung des OZGs zu verbinden, sei die Entlastung der Bürger*innen – und dafür sei die Registermodernisierung ein zentrales Vorhaben, stimmte auch Kleindiek zu.

Christoph Harnoth, Referent im BMI und nationaler SDG-Koordinator
Christoph Harnoth, Referenten im BMI und nationaler SDG-Koordinator
Dr. Ralf Kleindiek, Chief Digital Officer des Landes Berlin
Dr. Ralf Kleindiek, Chief Digital Officer des Landes Berlin

Europäische Themen als Ermöglicher für Digitalisierung in Deutschland

Nach der intensiven Diskussion über die Implikationen der EU-Verordnung zum SDG stellte Prof. Dr. Wilfried Bernhardt, stellvertretender Vorsitzender des NEGZ, in seinen Abschlussworten ein gemeinsames Vorangehen aller Akteur*innen in den Fokus: „Wir haben heute unter anderem gelernt, dass Deutschland auch gelobt werden darf. Die Bundesregierung engagiert sich nachhaltig in Brüssel für digitale Themen, und hier in Deutschland gibt es mittlerweile ein größeres Bewusstsein für europäische Themen. Aber es darf nicht vergessen werden zu fragen: Was nützt es dem einzelnen Individuum? Wir alle sollten das Ziel haben, stärker den Nutzen für die Bürger*innen zu kommunizieren.“ Ein Austausch von unterschiedlichsten Perspektiven wie an diesem Abend sei enorm wichtig, um europäische Themen aktiv auf die Agenda zu setzen. Denn EU-Vorhaben seien Impulse, die nationalen Anstrengungen auf dem Weg zu einer digitalen Verwaltung beschleunigen können, so Bernhardt.

Prof. Dr. Wilfried Bernhardt, stellvertretender Vorsitzender des NEGZ
Prof. Dr. Wilfried Bernhardt, stellvertretender Vorsitzender des NEGZ
Angeregte Gespräche im Anschluss an die Paneldiskussion
Im Anschluss an die Paneldiskussion fanden angeregte Gespräche statt.

Die Motivation, sich über die neuen Impulse auszutauschen und die europäische Inspiration aufzunehmen, war nach im Anschluss zu spüren. Gäste und Expert*innen tauschten sich auch nach der Fragerunde angeregt aus – dafür bot der Veranstaltungsort über den Dächern Berlins gute Gelegenheit. Wir danke dem D21-Mitglied EY für die Bereitstellung der Räumlichkeiten. Der Impuls, europäische Digitalisierungsthemen verstärkt in das eigene Wirken zu integrieren sowie nach außen zu tragen, war den Gesprächen immer wieder zu entnehmen. Ein erster Schritt dafür ist, die nächsten Maßnahmen der SDG-Umsetzung im Blick zu behalten: Die nächste anstehende Umsetzungsfrist, nämlich für die Einführung des Once-Only-Prinzips (einmaliges Einreichen von Dokumenten z. B. für Antragsstellungen), liegt Ende 2023.

Blick über die Dächer Berlins aus dem Veranstaltungsort, dem Berliner Büro von EY
Mit Blick über die Dächer Berlins diskutierten die Gäste über die Single Digital Gateway Verordnung.

Ansprechpartnerin in der Geschäftsstelle

Porträt von Lena-Sophie Müller