Ein europäisches Leitbild für unsere digitale Zukunft
Kooperationstagung mit der APB Tutzing, der Gesellschaft für Informatik und der Uni Passau liefert neue Einblicke zur werteorientierten Digitalisierung in der EU.
Tutzing. „Wo stehen wir als Europäer*innen zwischen China, wo Digitalisierung genutzt wird, um Diktatur neu zu erfinden, und den USA mit ihrem datengetriebenen Turbokapitalismus?“ Diese provokante Frage aus dem Impuls von Benjamin Adjei, Mitglied des Bayerischen Landtags und Sprecher für Digitalisierung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, charakterisiert die Frage, die im Zentrum einer zweitägigen Tagung in Tutzing am Starnberger See stand: Wie sieht das europäische Leitbild für unsere digitale Zukunft genau aus? Und werden die hohen Ambitionen, die sich die Europäische Union (EU) mit der Digitalen Dekade gesetzt hat, in der Realität überhaupt umsetzbar sein?
Ein europäischer Wertekanon für die Digitalisierung
Eröffnet wurde die Tagung – eine Kooperation zwischen der Initiative D21, der Akademie für Politische Bildung (APB) Tutzing, der Gesellschaft für Informatik und dem Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Europarecht und Informationstechnologierecht der Universität Passau – von der Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Dr. Katarina Barley. Für sie haben die Corona-Pandemie, aber auch der russische Angriffskrieg auf die Ukraine gezeigt, wie wichtig es für Europa sei, Digitalisierung wertegetrieben zu gestalten und dabei eine aktive geopolitische Rolle einzunehmen. Risiken in Bezug auf die Digitalisierung sieht Barley in der gezielten Verbreitung von Desinformation mit dem Ziel, unser demokratisches System zu destabilisieren. Ebenso sorgt sie die zunehmende Abhängigkeit von anderen Staaten im Bereich Hard- und Software – in vielen Schlüsseltechnologien liege Europa deutlich hinter Asien und Amerika. Um diesen Gefahren selbstbestimmt begegnen zu können, seien digitale Kompetenzen für alle Lebensbereiche von besonderer Bedeutung. Nur so habe jede*r Mensch die Möglichkeit, am digitalen Leben teilzuhaben und von diesem zu profitieren.
Barley skizzierte daher die Vorhaben des Europäischen Parlaments entlang der vier Kernbereiche des Digitalen Kompass, welcher die Ziele der Digitalen Dekade in messbare Kennwerte übersetzt:
- digitale Kompetenzen als Schlüssel für gerechte Teilhabe
- sichere und nachhaltige digitale Infrastruktur
- digitaler Wandel in Unternehmen
- Digitalisierung öffentlicher Dienste.


Entscheidend für die Umsetzung der Vorhaben in diesen Handlungsfeldern ist für Barley ein gemeinsamer Wertekanon:
Die gemeinsame Arbeit in der EU kann nur auf Grundlage von Werten geschehen. Das zeigt sich bei der Digitalisierung besonders: Datensicherheit sowie Schutz vor Manipulation und Kontrolle haben in Europa einen anderen Wert als zum Beispiel in den USA oder China.
Die Übersetzung dieser Werte in Rechte und Gesetze sei deshalb eine der wichtigsten Aufgaben des Europäischen Parlaments. Vizepräsidentin Barley tritt deshalb auch dafür ein, dass es neue, eigene Grundrechte für die digitale Welt brauche, wie etwa ein Grundrecht auf digitale Selbstbestimmung oder auf transparente und faire Algorithmen. Diese Vorstellung trifft auch bei den europäischen Bürger*innen auf großen Zuspruch, die Mehrheit begrüßt die Einführung „Europäischer Digitaler Rechte und Prinzipien“.
Die Bedeutung von Höchstleistungscomputern für Europas Digitale Zukunft: Die Perspektive der Informationswissenschaften

Mit ihrer Keynote setzte die Vizepräsidentin des Europaparlaments den Ton und auch die Themen für den restlichen Abend. Die wachsende Abhängigkeit Europas im Bereich der Hardware war beispielsweise auch Kerngedanke des Beitrags von Prof. Dr. Martin Schulz von der Technischen Universität München. Die Bedeutung von Höchstleistungsrechnern für die digitale Zukunft Europas sei nicht hoch genug zu einzuschätzen: „Seit 30 Jahren sehen wir ein exponentielles Wachstum von Höchstleistungscomputern: Das, was ein Höchstleistungscomputer vor etwa 20 Jahren leisten konnte, steckt heute in einem Smartphone. Höchstleistungscomputer sind mittlerweile systemkritisch geworden und in vielen Ländern auch sicherheitskritisch.“ Vor allem für die digitale Souveränität Europas werde es auch in Zukunft wichtig sein, verstärkt in die Entwicklung von Höchstleistungsrechner zu investieren, denn: „Who doesn’t compute, does not compete“.
Freiheit und Demokratie im digitalen Wandel Europas
Das Akademiegespräch am See bildete den Abschluss des ersten Tages der Tagung und stellte die Werte Freiheit und Demokratie ins Zentrum der politisch divers besetzten Podiumsdiskussion. Benjamin Adjei (MdL, Bündnis 90/Die Grünen) betonte, dass wir bei der Gestaltung der digitalen Zukunft Europas keine Angst vor dem Wandel haben dürfen: „Digitalisierung bringt uns als Gesellschaft zahlreiche Vorteile. Aber es ist wichtig, dass hinter der Digitalisierung verschiedener Lebensbereiche auch eine Strategie steht, denn bereits kleine technische Details können massive Auswirkungen haben.“ Digitalisierung first, Bedenken second dürfe nicht die Maxime sein, so Adjei. Deshalb sei die Menschzentrierung entscheidend für eine wertegetriebene digitale Transformation in Europa. Der Aufbau digitaler Kompetenzen sei wichtig, um Souveränität und Selbstbestimmung der Menschen im Umgang mit dem Internet zu gewährleisten – ein Punkt, den auch D21-Vorstand Prof. Dr. Arnd Steinmetz in der Publikumsdiskussion betonte. Es sei ein Trugschluss, dass nur ältere Generationen Aufholbedarf in Sachen Digitalkenntnisse hätten. Die sogenannten „Digital Natives“ könnten zwar fast alles anwenden können, aber vieles in der digitalen Welt würden sie nicht verstehen. Auch für Adjei ist klar:
Beim digitalen Kompetenzerwerb müssen wir bedenken, wie schnell die Welt sich verändert. Anpassungsfähigkeit ist hier wichtiger als in anderen Bereichen unseres Lebens. Einmal Autofahren lernen reicht für ein ganzes Leben, einmal Digitalisierung lernen nicht.



Laut Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP, Bundesministerin der Justiz a. D.) sind Freiheit und Demokratie durch die digitale Transformation unter enormen Druck. Desinformation (z. B. Kriegspropaganda) sei eine Herausforderung, die durch Digitalisierung befördert werde und heute die Gesellschaft schneller und tiefer durchdringe als je zuvor. Statt sich mit Fakten zu befassen, entgleite der Diskurs im Digitalen zunehmend hin zu Zuspitzungen und Radikalisierungen, so Leutheusser-Schnarrenberg:
Das Internet ist kein Raum mehr, in dem man Argumente darlegen und gemeinsam nach Lösungen suchen kann.
Die Rechtsprechung und -durchsetzung müsse gewährleisten, dass Hassrede und Desinformation erfasst und verfolgt werden, sonst würden sich immer mehr Menschen aus dem demokratischen Diskurs zurückziehen – eine Entwicklung, die sie schon heute beobachte. Hierbei sieht sie die EU als entscheidenden Akteur.

„Das Internet ist angetreten, um den Staaten die Demokratie und Freiheit zu bringen. Nun muss der Staat die Demokratie im Internet schützen“, so Dr. Hans Michael Strepp, Amtschef im Bayrischen Staatsministerium für Digitales, in der Paneldiskussion. Der Schutz der Persönlichkeit ende nicht mit der analogen Welt, denn das Internet sei kein rechtsfreier Raum. Digitalisierung müsse wirtschaftliche Stärke, technologischer Fortschritt und geopolitische Verantwortung bedeuten – im Umkehrschluss sei es unsere Aufgabe, unsere Werte wirtschaftlich, technologisch und geopolitisch zu verteidigen: „Wir werden auch mit der besten Regulierung bei uns nicht verhindern, dass das Internet an anderen Orten für autokratische Zwecke missbraucht wird.“
Perspektivenwechsel: Die Digitalisierung in China
Der zweite Tag begann mit einem Perspektivenwechsel: Miriam Theobald, Managing Partnerin und COO bei DongXii.com, nahm die Gäste der Tagung mit nach China und zeigte anschaulich, wie die größte Nation der Welt die digitale Transformation gestaltet. Was chinesische Unternehmen aktuell so erfolgreich mache, sei die Nutzer*innenzentrierung: „Der Kunde wird als Nutzer, nicht als Konsument angesehen. Darum sind auch eigentlich alle Unternehmen, die Produkte oder Dienstleistungen verkaufen, gleichzeitig Tech-Unternehmen.“ Einer der größten Unterschiede sei die Infrastruktur – schnelles Internet habe man sogar zwei Stockwerke unter der Erde, während hier vielerorts selbst oberirdisch die Internetgeschwindigkeit unterirdisch sei. Auch werde Digitalisierung überall konsequent mitgedacht und implementiert. Bestes Beispiel sei die Stadtentwicklung: In den nächsten Jahren werden weitere 15 bis 20 Prozent der Chines*innen in die Städte ziehen, weshalb schon jetzt digitale Möglichkeiten genutzt werden, um lebenswerten Wohnraum zu schaffen. Logistikzentren und Lager würden aus den Städten verbannt, stattdessen werde nur nach Bedarf geliefert – welcher das sein wird, wüssten die Unternehmen durch die Nutzer*innendaten, die ohne Begrenzung gesammelt werden könnten.


Aber auch die chinesische Regierung habe ein großes Interesse daran, den digitalen Aufschwung weiter zu fördern. „Chinas Wirtschaftssupermachtanspruch wirkt sich stark auf die Digitalisierung aus. Regulierung nach europäischem Bild ist dort kein Thema, vielmehr geht es um Big Data und die Kontrolle über den ‚korrekten‘ Bürger“, so Dr. Saskia Hieber, Referentin für Sicherheitspolitik Asien-Pazifik bei der APB. Auf der anderen Seite fördere der Staat aber auch die Teilhabe der Bürger*innen am digitalen Aufschwung durch das sogenannte „Common Prosperity“-Prinzip. Während die chinesische Regierung den Unternehmen viele Jahre lang beinah freie Hand gelassen hat, würden diese nun stark reguliert und in die Pflicht genommen. Wie lange dies gut gehe, bleibe eine große Frage:
Innovation ist eine der Legitimitätsgrundlagen des politischen Systems in China, eine der Legitimitätsgrundlagen der Macht der Partei. Wenn sie Innovation einschränkt, sät das Zweifel innerhalb der Bevölkerung.
Die Digitale Transformation in einem souveränen Europa


Zum Abschluss der Tagung skizzierte Prof. Dr. Anne Paschke, Professorin am Institut für Öffentliches Recht & Technikrecht der TU Braunschweig, ihre Vision für eine souveräne Gesellschaft in der digitalen Transformation Europas. Digitale Souveränität definiert Paschke dabei als Fähigkeit zum selbstbestimmten Handeln und Entscheiden im digitalen Raum. Um dies gewährleisten zu können, brauche es einen gültigen Rechtsrahmen, eine konsequente Rechtsdurchsetzung, Zugang zu Schlüsseltechnologien sowie die Fähigkeit diese zu beherrschen, funktionierende Märkte und keine alternativlosen Abhängigkeiten. Neben der Regulierung durch Gesetze müsse Europa noch stärker auf verbindliche Standards setzen, denn:
Standards bestimmen oftmals stärker und direkter unseren Alltag als Gesetze. Diese Standards werden häufig von nicht demokratisch zusammengesetzten Gremien gesetzt. Wenn sich Europa nicht mehr mit Standards beschäftigt, laufen die vielen guten Regulierungen ins Leere.
Eine souveräne Gesellschaft in der digitalen Transformation brauche außerdem eine Modernisierung und Professionalisierung der Verwaltung. Nur wenn die Verwaltung aktiv den digitalen Wandel begleite, könne sie auch das Vertrauen der Bürger*innen und damit auch die gesellschaftliche Resilienz stärken. „Wenn wir es nicht schaffen, nutzerzentrierte digitale Leistungen von Verwaltungen zur Verfügung zu stellen, werden private Unternehmen nach vorn treten zwischen Staat und Bürger*innen und diese stattdessen anbieten. Die Verwaltung setzt die eigene Legitimität damit aufs Spiel.“
Digitale Transformation als Meta-Transformation
Am Ende der Tagung in Tutzing steht eines fest – für die Zukunft Europas ist es unerlässlich, dass wir den digitalen Wandel aktiv und nach unseren Werten gestalten. Anne Paschke bringt es auf den Punkt: „Die digitale Transformation ist die Grundlage für alle weiteren notwendigen Transformationsprozesse unserer Gesellschaft – sei es die Verkehrswende, die Energiewende, nachhaltige und faire Lieferketten, der Wandel der Arbeitswelt oder der Grüne Wandel. Sie ist damit die Meta-Transformation für unsere Gegenwart und Zukunft.“