„Mitarbeitende weiterzubilden stärkt internationale Wettbewerbsfähigkeit.“

Interview mit Cawa Younosi zum Kapitel „Digitale Wertschöpfung“ im D21-Digital-Index 2023/2024

Porträt von Cawa Younosi in einem schwarz-weiß-Effekt

Herr Younosi, Sie waren 14 Jahre bei SAP, davon lange Zeit als Mitglied der Geschäftsleitung. Sie gelten auch als Top Voice im Business-Netzwerk LinkedIn und als HR-Experte. Wie hat sich Ihre eigene Arbeit im Laufe der Jahre durch die Digitalisierung verändert?

Digitalisierung ist der Schlüssel zum Erhalt und zur Mehrung unseres nachhaltigen Wohlstands. Anders als früher können Arbeitgeber nicht auf einen „unbegrenzten“ Pool an Arbeitskräften zurückgreifen – Stichwort Fachkräftemangel – müssen aber trotzdem im globalen Wettbewerb mithalten. Und da hilft die Digitalisierung enorm, um mit begrenzten Ressourcen maximalen Nutzen und Synergien zu heben. Durch die komplette Digitalisierung der HR-Prozesse waren wir in der Lage, einerseits extrem effizient zu sein, um auf der anderen Seite die dadurch frei gewordenen Ressourcen für eine bessere Zufriedenheit der Mitarbeitenden einzusetzen.

Anschlussfrage: Wenn Sie in die Zukunft blicken: Welche Veränderungen wird der digitale Wandel für die Arbeitswelt und insbesondere für die Beschäftigten mit sich bringen? Und welche Rolle wird Künstliche Intelligenz (KI) dabei spielen?

Der digitale Wandel wird umfassende Veränderungen in der Arbeitswelt initiieren. Automatisierung und Technologisierung haben und werden Routineaufgaben übernehmen, was zu einer Verschiebung der Anforderungen an die Beschäftigten führt. Statt die Maschine manuell zu bedienen, werden sie beispielsweise Datenanalysen erstellen, um die Maschine besser auszulasten oder die Wartung besser planen zu können. Die Umstellung erfordert somit eine verstärkte Fokussierung auf kreative, analytische, soziale und kritische (!) Fähigkeiten, die von Maschinen nicht leicht repliziert werden können.

KI wird eine zentrale Rolle spielen, indem sie zunehmend komplexe Aufgaben bewältigt, Daten analysiert und Entscheidungsprozesse optimiert. Dies ermöglicht Effizienzsteigerungen, birgt aber auch die Herausforderung, dass bestimmte Arbeitsfelder transformiert oder überflüssig werden könnten. Daher ist eine proaktive Anpassungsfähigkeit der Beschäftigten entscheidend.

Die Herausforderung besteht also darin, eine ausgewogene Integration von Automatisierung und menschlichen Fähigkeiten zu erreichen, um produktive und sinnstiftende Arbeitsumgebungen zu schaffen. Wie bei der Digitalisierung im Allgemeinen wird auch der bereite Einsatz von KI im Speziellen zu neuen Jobprofilen führen, während andere obsolet werden. In Summe aber wird der Arbeitsmarkt aus Arbeitgebersicht wegen des demografischen Wandels angespannt bleiben.

Wir haben die Bürger*innen gefragt, in welchen Lebensbereichen sie die größten Veränderungen durch KI-Anwendungen erwarten. Am zweithäufigsten, direkt nach dem Bildungsbereich, wurde die Arbeitswelt genannt, wobei mehr Bürger*innen an positive als an negative Veränderungen glauben. Allerdings gibt es große Unterschiede: An positive Veränderungen glauben vor allem Menschen mit Schreibtischjobs, Männer und Menschen mit Führungsverantwortung. Glauben Sie, dass die Digitalisierung Spaltungen bei der Teilhabe an der Wertschöpfung im Land potenziell eher verstärkt, als dass sie dazu beiträgt, sie abzubauen? Warum bzw. warum nicht?

Es kommt darauf an. Die Digitalisierung hat sowohl das Potenzial, Spaltungen zu verstärken, als auch sie zu verringern. Einerseits können technologische Fortschritte zu einer Konzentration von Wohlstand und Macht in den Händen weniger führen, insbesondere wenn der Zugang zu Bildung und Ressourcen ungleich verteilt ist. Dies könnte bestehende sozioökonomische Unterschiede verstärken. Insofern ist beispielsweise die Verabschiedung des AI-Act auf EU-Ebene ein guter Rahmen, um den Markt für möglichst viele, auch kleinere Teilnehmer*innen attraktiv und niedrigschwellig zu halten.

Andererseits bieten digitale Technologien auch Chancen für eine breitere Teilhabe. Wenn sie inklusiv gestaltet werden, können sie den Zugang zu Bildung, Arbeit und wirtschaftlichen Möglichkeiten verbessern. Die Förderung digitaler Kompetenzen und der Ausbau digitaler Infrastrukturen wird entscheidend sein, um sicherzustellen, dass die Vorteile der Digitalisierung in der Gesellschaft breit verteilt werden.

Fragt man die Berufstätigen in Deutschland, so glauben 76 Prozent, dass es bis 2035 durch die Digitalisierung ganze Berufe oder Tätigkeiten nicht mehr geben wird, aber nur 23 Prozent, dass dies auch ihren eigenen Job betreffen könnte. Was sagen Sie zu diesen Ergebnissen: Schätzen die Beschäftigten die Situation realistisch ein?

Der Mensch ist ein Gewohnheitswesen und hat es gern, wenn er sich selbst nicht allzu stark verändern muss. Aber die Realität ist eine andere. Ich glaube, dass der Wandel zu neuen Berufen viel früher stattfinden wird als bis 2035. Und es wird viel eher die Wissensarbeiter*innen als die „Blue Collar“-Beschäftigten treffen. Letztere erfahren bereits seit Jahrzehnten Automatisierung und Strukturwandel in ihren Tätigkeiten – bis hin zu Roboterfabriken, die nahezu gänzlich ohne Menschen auskommen. Bei „White Collar“-Beschäftigten ist das anders: Sie haben sich bisher in Sicherheit gewähnt, weil sie davon ausgingen, dass geistige Arbeit nur schwerlich durch Maschinen ersetzt werden könnte. Seit dem Go-Live von ChatGPT zeigt sich, dass es gerade in der Dienstleistungsbranche enormes Potenzial gibt, durch KI größere Effizienzen zu haben. Dass nur 23 Prozent der Befragten meinen, dass auch ihr Job betroffen sein könnte, wird sich als großer Irrtum erweisen. Insofern sind Arbeitgeber gut beraten, ihre Mitarbeitenden vorausschauend auf die Reise mitzunehmen, z. B. durch Aufklärung, Sensibilisierung und Weiterqualifizierung. Denn wir werden im Hinblick auf den demografischen Wandel jede*n Einzelne*n brauchen!

Etwa 6 von 10 Beschäftigten geben an, dass sie in ihrem Beruf schon einmal Kenntnisse oder entsprechende Fähigkeiten im Bereich der Digitalisierung benötigt haben. Nur 18 Prozent sagen aber, dass sie in den letzten 12 Monaten von ihrem Arbeitgeber Schulungen oder Weiterbildungen zu diesem Thema erhalten oder genutzt haben. Wie bewerten Sie diese Ergebnisse im Hinblick auf die Sicherung und Schaffung neuer Beschäftigungsmöglichkeiten?

Diese Ergebnisse zeigen eindrücklich die Diskrepanz zwischen dem Bedarf an digitalen Fähigkeiten am Arbeitsplatz und der tatsächlichen Bereitstellung von Schulungen. Wenn Beschäftigte nicht ausreichend auf die Anforderungen der digitalen Arbeitswelt vorbereitet werden, besteht das Risiko, dass sie den steigenden Anforderungen nicht gerecht werden können. Dies könnte zu einem Fachkräftemangel in Schlüsselbereichen führen und potenziell die Innovationskraft von Unternehmen beeinträchtigen. Also ja: Die Diskrepanz könnte langfristig Auswirkungen auf die Sicherung und Schaffung neuer Beschäftigungsmöglichkeiten haben.

Unternehmen und Bildungseinrichtungen müssen zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass die Belegschaft kontinuierlich Zugang zu relevanten Schulungen und Weiterbildungen hat. Am Ende tragen Unternehmen, die in die Entwicklung ihrer Mitarbeitenden investieren, nicht nur zu deren individueller Karriereentwicklung bei, sondern stärken auch ihre eigene Wettbewerbsfähigkeit in einer zunehmend digitalisierten Welt mit einem schrumpfenden Pool an Fachkräften.

Nur knapp die Hälfte der Beschäftigten hat grundsätzlich das Gefühl, dass ihr Arbeitgeber die notwendigen Schritte unternimmt, damit die Organisation im digitalen Wandel national bzw. international mithalten kann. Gleichzeitig glaubt nur knapp jede*r Vierte, dass deutsche Schulen die notwendigen Kompetenzen im Umgang mit der Digitalisierung vermitteln, sodass die Schüler*innen im internationalen Vergleich gut mithalten können. Wie beurteilen Sie die Zukunftsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, insbesondere im internationalen Wettbewerb? Können wir unseren Wohlstand auch im digitalen Wandel erhalten oder drohen wir langfristig abgehängt zu werden?

Die Zukunftsfähigkeit der deutschen Wirtschaft im internationalen Wettbewerb hängt stark von der erfolgreichen Anpassung an die Anforderungen der Digitalisierung ab. Das fängt in den Schulen an – und das natürlich möglichst inklusiv. Zuletzt ist der Anteil von Frauen in MINT-Studiengängen sogar zurückgegangen!

Um den Wohlstand zu erhalten, ist ferner eine engere Verzahnung zwischen Unternehmen und Bildungseinrichtungen erforderlich. Wenn Deutschland erfolgreich in die Digitalisierung investiert und eine umfassende digitale Transformation vorantreibt, besteht die Chance, den Wohlstand zu erhalten. Voraussetzung dafür, dass Deutschland international konkurrenzfähig bleibt, ist allerdings, dass die Investitionen in Bildung deutlich steigen. Wir müssen innovative Lösungen für die Herausforderungen der digitalen Ära entwickeln.

Wenn Sie nach einer Empfehlung gefragt würden, wie wir die deutsche Wirtschaft fit für die Zukunft machen können, was wäre Ihre Antwort?

Ich würde mir wünschen, dass seitens der Regierung noch mehr und signifikant in unsere Zukunft investiert wird: in die digitale Bildung, bessere Kinderbetreuung und Ausstattung der Schulen und Unis. Außerdem sehe ich gerade im Hinblick auf die Demografie einen großen Hebel darin, mehr und bessere Teilhabe von den Menschen zu ermöglichen, die aus unterschiedlichen Gründen benachteiligt werden: Menschen mit Kinderbetreuung – mehrheitlich Frauen –, Menschen, die ihre Angehörige pflegen, Menschen, die wegen ihrer sozialen Herkunft nicht mit einer super Ausgangsposition im Leben gesegnet waren… Wir brauchen insgesamt ein Mindset, das auf Potenziale schaut und sich auf Chancen fokussiert, während es Risiken managt.

Wenn Sie sich die Ergebnisse unserer Studie ansehen: Welches Ergebnis hat Sie besonders überrascht, sei es positiv oder negativ?

Negativ hat mich leider überrascht, dass zwar 61 Prozent der Berufstätigen digitale Skills in ihrem Berufsleben benötigen, aber nur 18 Prozent entsprechende Schulungen von ihren Arbeitgebenden erhalten haben. Hier liegt eine große Bringschuld und zugleich Chance seitens der Arbeitgebenden, mehr zu investieren, um die Mitarbeitenden nicht nur in ihrem aktuellen Job erfolgreich zu machen, sondern sie auch auf die digitale Reise mitzunehmen. In Zeiten von zunehmendem Arbeitnehmer*innenmangel ist Upskilling der eigenen Belegschaft entscheidend, um im Wettbewerb zu bestehen.

Gibt es abschließend etwas, dass Sie uns noch zu diesem Thema mitgeben wollen?

Dass wir die Reform und ein Update unseres Bildungssystems endlich ernst nehmen und mutig angehen müssen – angefangen bei der Lehrkräfteausbildung, die nach dem Abschluss keine Weiterqualifizierungen mehr vorsieht, über die Lehrmethodik bis hin zur personellen Ausstattung der Schulen. Ich bin mir sicher: Würden wir all das beherzt angehen, mit Angeboten zu digitalen Fähigkeiten früh beginnen, Chancengerechtigkeit leben, unabhängig davon, in welchem Haushalt mit welchem Bildungshintergrund die Kinder geboren wurden, dann könnten wir kommenden Herausforderungen gelassen entgegen sehen.

Das Interview führte

Porträt von Sandy Jahn

Sandy Jahn, Referentin Strategic Insights & Analytics