Ein chancen- und werteorientiertes Mindset für die digital resiliente Gesellschaft

Interview mit Prof. Dr. Doris Weßels zum Kapitel „Resilienz im Digitalen Wandel“ im D21-Digital-Index 2023/2024

Porträt von Doris Weßels in einem schwarz-weiß-Effekt

Frau Prof. Dr. Weßels, Sie waren viele Jahre sowohl in der freien Wirtschaft als auch in Wissenschaft und Lehre tätig. Wie haben sich diese Bereiche Ihrer Meinung nach durch die Digitalisierung verändert?

Ich war vor meiner Tätigkeit als Hochschullehrerin zwölf Jahre lang in unterschiedlichen IT-Managementpositionen in der Wirtschaft tätig. Dort zählten insbesondere das Gespür für Marktpotenziale und die Schnelligkeit in der Umsetzung digitaler Innovationen, um wettbewerbsfähig zu sein und es auch zu bleiben. Bildungsbereiche „ticken“ gänzlich anders. Besonders deutlich ist der Unterschied zu erkennen, wenn es um Zielsetzungen zur Effizienzsteigerung oder einen optimalen Ressourceneinsatz geht. Was in der Wirtschaft fest in der DNA der Organisationen verankert ist, ist im Bildungsbereich zwar in der Theorie bekannt, wird auch gelehrt, aber häufig nicht in der eigenen Organisation angewandt. Das gilt leider auch für den Einsatz digitaler Technologien. Daher hinken wir bei der Digitalisierung im Bildungsbereich hinterher, nicht nur international, sondern sogar im europäischen Vergleich. Digitale Innovationen mit einer Sprengkraft wie ChatGPT und Co. sind für den Bildungsbereich eine ganz besondere Herausforderung, da sie auch noch mit einer rasanten Geschwindigkeit einhergeht (siehe meine Publikation aus dem Jahr 2020).

Anschlussfrage: Sehen Sie Unterschiede in der Fähigkeit der Menschen in diesen beiden Bereichen, mit den Veränderungen umzugehen, die die digitale Transformation bringt?

Die Unterschiede sind sehr offensichtlich: Die Anpassungsfähigkeit in der freien Wirtschaft ist höher, da der Markt- und Wettbewerbsdruck größer ist. Im akademischen Bereich hingegen existieren oft strukturelle und kulturelle Barrieren, die sich negativ auf die Adaptionsfähigkeit auswirken. Trotz dieser Unterschiede ist es in beiden Bereichen entscheidend, digitale Kompetenzen kontinuierlich zu fördern.

In der Wirtschaft ermöglicht die Digitalisierung Innovation und neue Geschäftsmodelle, während sie in der Wissenschaft und Lehre den Zugang zu Wissen und der Entwicklung neuer Lehr- und Lernmethoden fördern kann. Die Integration von generativer KI wie z. B. Text- und Bildgeneratoren spielt eine zunehmend bedeutsamere Rolle in beiden Bereichen.

Generative Künstliche Intelligenz – da sind sich die meisten Expert*innen einig – ist ein Quantensprung in der technologischen Entwicklung, dessen Bedeutung für die Menschen mit der Markteinführung des iPhones gleichgesetzt wird. Stimmen Sie dem zu? Wird die generative KI unsere Gesellschaft mit all ihren Bereichen wie Bildung, Wirtschaft, Kultur etc. wirklich so grundlegend verändern?

Von mir ein klares „JA“! Diese Technologie wird unser berufliches und privates Leben gravierend verändern; für einige von uns ist das bereits passiert. Wir haben mit generativer KI in diesem Jahr 2023 eine bisher nicht gekannte Innovationsdynamik erlebt, die viele etablierte Prozesse infrage stellt und neue Prozessabläufe ermöglicht, die wir uns vor kurzer Zeit noch nicht einmal vorstellen konnten. Wir müssen nun als Gesellschaft für alle relevanten Bereiche wie z. B. Bildung, Forschung, Kultur oder Wirtschaft schnell und im Konsens mit allen relevanten Stakeholder*innen Mechanismen zur kontinuierlichen Neujustierung in veränderten Rahmenbedingungen etablieren und einen ausbalancierten Weg finden, der die Stärken von Mensch und Maschine bestmöglich kombiniert und gleichzeitig die Risiken stets im Blick und beherrschbar hält.

Die digitale Transformation schreitet mit exponentieller Geschwindigkeit voran; manche sagen, was mit ChatGPT heute möglich ist, hätte man erst in etwa 10 Jahren erwartet. Wie gehen wir als Gesellschaft bestmöglich mit diesen immer schneller kommenden disruptiven technologischen Entwicklungen um? Was können die Politik, aber auch Wirtschaftsakteur*innen und die Zivilgesellschaft oder die Wissenschaft tun? Und ganz wichtig: Was kann auch jede*r Einzelne tun?

Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass in Zukunft Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft besser sektorübergreifend kooperieren, intensiver voneinander lernen und Synergien stärker nutzen, um mit der rasanten technologischen Entwicklung Schritt zu halten. Die kontinuierliche Bildung und Förderung digitaler Kompetenzen sowie die Entwicklung ethischer und rechtlicher Rahmenbedingungen für KI sind dabei unerlässlich.

Für uns persönlich bedeutet es, dass wir den Mut zur Erkundung neuer digitaler Welten aufbringen müssen. Hierzu zählen neben der Aufgeschlossenheit für neue technologische Entwicklungen auch Experimentierfreude und interdisziplinäres Denken. Diese Kompetenzen werden wesentliche Elemente der Next Skills. 

Wir sehen in unserer langjährigen Bevölkerungsstudie, dass immer mehr Menschen Zugang zur digitalen Welt finden und deren Möglichkeiten zunehmend nutzen. Allerdings wachsen die digitalen Kompetenzen in der Bevölkerung nicht im gleichen Maße. Vor allem wichtige Verstehens- und Transferkompetenzen, die helfen, sich selbstbestimmt und reflektiert in der digitalen Welt zu bewegen, fehlen vielen Menschen – auch den digital affinen Gruppen. Wie schätzen Sie die Bedeutung digitaler Kompetenzen für die Resilienz der Menschen im digitalen Wandel ein?

Ich betrachte digitale Kompetenzen als entscheidend für die Resilienz und Selbstbestimmung der Menschen im digitalen Wandel. Es geht dabei nicht nur um ein Grundverständnis für die Technik, sondern auch um ein Verständnis für ethische und rechtliche Fragestellungen. Aus diesem Grund ist digitale Bildung auch so bedeutsam. Gelingt uns diese Qualifizierungsoffensive nicht zeitnah genug, droht die Gefahr, dass sich die digitale Spaltung in unserer Gesellschaft weiter verschärft – siehe auch das Ergebnis Ihrer Studie, dass die Digitale Mitte 6 Prozentpunkte bei der Resilienz verliert und die Digitalen Profis 6 Prozentpunkte gewinnen. Wir leben schon heute in unseren Bubbles in erschreckend voneinander getrennten Welten. Dieser Entwicklung, die letztlich auch eine Gefahr für unsere Demokratiefähigkeit darstellt, müssen wir dringend entgegenwirken.

Neben den digitalen Kompetenzen spielt es auch eine große Rolle, wie die Bürger*innen dem digitalen Wandel begegnen. Wir stellen fest, dass sich immer mehr Menschen unter Druck gesetzt fühlen, mit dem Wandel zu Schritt halten. Der Wunsch, wieder mehr offline sein zu können, ist vor allem in den digital affinen Generationen inzwischen weit verbreitet. Gleichzeitig hat das Gefühl, persönlich von der Digitalisierung zu profitieren, seit der ersten Messung im Jahr 2020 einen neuen Tiefpunkt erreicht. Wie passt das Ihrer Meinung nach mit den immer neuen digitalen Möglichkeiten zusammen, die der Wandel für die Menschheit mit sich bringt? Können Sie sich diese zunehmend ablehnende Haltung der Menschen erklären?

Ich beobachte auch bei mir und in meinem persönlichen Umfeld, dass persönliche und zwischenmenschliche Begegnungen an Wert gewinnen. Das ist nach meiner Einschätzung zu einem Teil ein Post-Corona-Effekt nach der intensiven Zeit von Homeoffice und Online-Meetings. Wir erleben aber auch unabhängig davon in den letzten Jahren eine kontinuierliche Beschleunigung der Digitalisierung im privaten wie auch im beruflichen Leben. Daraus resultiert die Sorge, dass wir Menschen dem Tempo dieses Wandels immer weniger gewachsen sind und letztlich zu Opfern der Digitalisierung werden könnten. Das Ziel muss daher sein, vielfältige Hilfestellungen für die Vermittlung digitaler Kompetenzen anzubieten und eine Balance mit dem Leben in der analogen Welt zu finden, damit wir Menschen diese digitalen Innovationen als wertvoll und hilfreich empfinden und nicht als Bedrohung.

Erschwerend kommt hinzu, dass wir nahezu täglich in den Medien mit den Gefahren von digitalen Fakes konfrontiert werden. Auch das schürt viel Ängste. Aviv Ovadya, damals Fake-News-Forscher an der Stanford University, hat bereits 2016 im Zusammenhang mit KI und Fake-News den Begriff „reality apathy“ geprägt. Er bezieht sich auf das nahezu vollständige Desinteresse an Ereignissen, die in der Realität außerhalb der eigenen Lebenswelt stattfinden, weil es immer aufwändiger und schwieriger wird, zwischen echten und gefälschten Informationen zu unterscheiden. Wenn wir als Gesellschaft diesen Weg wählen, führt es zu einer gesellschaftlichen Segmentierung ohne verbindende Elemente – eine echte Dystopie, die es mit aller Kraft zu vermeiden gilt.

Wenn man Sie nach einer Empfehlung fragt, wie wir die Resilienz der Menschen im digitalen Wandel stärken können, um die deutsche Gesellschaft fit für die Zukunft zu machen, was wäre Ihre Antwort?

Um die Resilienz im digitalen Wandel zu stärken, empfehle ich eine umfassende digitale Bildung und Aufklärung. Ich hatte bereits im April 2023 meine Empfehlungen für den Bundestagsausschuss Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zum Thema ChatGPT formuliert:

  • Wir benötigen eine Task-Force „KI-Bildung“, die sich mit zielgruppengerechten Qualifizierungsangeboten an alle Lehrenden und Verantwortlichen im deutschen Bildungsbereich wendet. Diese Task-Force muss zeitnah gebildet werden und zentral verankert sein, um die erforderliche Schnelligkeit, Schlagkraft und Reichweite in der deutschen Bildungslandschaft zu erzielen.
  • Wir benötigen dringend DSGVO-konforme (deutsche bzw. europäische) KI-Sprachmodelle für den Einsatz in der Bildung mit Lizenz- bzw. Nutzungsmodellen, die zum Bildungsbereich passen und praktikabel sind. Der an vielen Stellen noch „rechtsfreie“ Raum beim Einsatz generativer KI-Systeme und der Nutzung des KI-generierten Contents in dem kollaborativen Prozess von Mensch und Maschine muss dringend geklärt werden. Wir benötigen gesellschaftlich akzeptierte Eckpfeiler für ein rechtskonformes und ethisch verantwortliches Handeln.
  • Last, but not least sind diese Maßnahmen als Teil einer systemweiten Vision und strategischen Prioritätensetzung von Digitalisierung in unserer Gesellschaft zu verstehen. Deutschland muss ein chancen- und werteorientiertes digitales Mindset entwickeln. Bürokratische Hemmnisse müssen überwunden und eine Aufholjagd gestartet werden, um in Zeiten des beschleunigten Wandels und generativer KI-Systeme die Zukunftsfähigkeit und damit auch die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands sicherzustellen.

Wenn Sie sich die Ergebnisse unserer Studie ansehen: Welches Ergebnis hat Sie besonders überrascht, sei es positiv oder negativ?

Mich hat es überrascht, dass immer noch so viele Menschen (immerhin 43 Prozent der Nutzenden) ChatGPT als Suchmaschine verstehen, dabei funktioniert ChatGPT ganz anders. Dieses Missverständnis gilt es auszuräumen.

Sehr erstaunlich finde ich es, dass der Einsatz von KI nicht nur im medizinischen Bereich, sondern auch im psychologischen Bereich derartig positiv bewertet wird (deutlich positiver als im Bildungsbereich).

Gibt es abschließend etwas, dass Sie uns noch zu diesem Thema mitgeben wollen?

Bei der Aussage „Deutsche Schulen vermitteln die benötigten Fähigkeiten im Umgang mit der Digitalisierung, so dass die Schüler im internationalen Vergleich gut mithalten können“ liegt das Maximum der Zustimmung bei „nur“ 32,6 Prozent, und zwar von Gen Y. Die Generation bis 1945 stimmt sogar nur mit 19,2 % zu (= Minimum). Das bedeutet, dass nach dieser repräsentativen Befragung zwei Drittel der Deutschen dem deutschen Bildungssystem im internationalen Vergleich ein Versagen bei der Vermittlung digitaler Kompetenzen attestieren. Besonders erschreckend ist, dass die älteren Generationen mit ihrer Lebenserfahrung besonders pessimistisch sind. Für mich stellt sich die Frage, ob diese Einschätzung auf der eigenen Bildungshistorie oder auf aktuellen Beobachtungen bei Kindern und Enkelkindern beruht, aber es stimmt mich in beiden Fällen sehr nachdenklich.

Das Interview führte

Porträt von Sandy Jahn

Sandy Jahn, Referentin Strategic Insights & Analytics