„Klimaschutz muss zum Standard in der digitalen Transformation werden.“

Interview mit Jan Quaing zum Kapitel „Digitaler und grüner Wandel“ im D21-Digital-Index 2023/2024

Porträt von Jan Quaing in einem schwarz-weiß-Effekt

Herr Quaing, Sie arbeiten als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt DBU nachhaltig.digital bei der Deutschen Bundesstiftung Umwelt. Fragt man die Bürger*innen, ob die Digitalisierung eher positiv oder negativ auf die ökologische Nachhaltigkeit wirkt, so gibt es keine klare Antwort: Etwa gleich viele sagen positiv wie negativ. Als Experte in diesem Bereich – was würden Sie sagen: Hat die Digitalisierung eher einen positiven oder einen negativen Einfluss auf die ökologische Nachhaltigkeit?

Zunächst hilft die Digitalisierung, komplexe Themen wie die Klimakrise besser verstehen und notwendige Handlungsräume identifizieren zu können – das ist auf jeden Fall ein positiver Einfluss. Digitale Technologien wie Sensorik und Big-Data-Anwendung können dazu beitragen, dass sich Energie- und Ressourcenverbräuche reduzieren. Dabei müssen Rebound-Effekte aber stets mitberücksichtigt werden, da der positive Einsparungseffekt sonst schnell zunichte gemacht wird.

Trotz dieser beiden Schlaglichter auf die positiven Auswirkungen hat die Digitalisierung im Moment allerdings einen negativeren Einfluss auf die ökologische Nachhaltigkeit, da sie unreguliert abläuft. Notwendige Ressourcen für die Hardware der digitalen Technologien werden meist unter Missachtung von Umwelt- und Arbeitsschutz gefördert. Im Bereich der Software werden zudem enorme Energieressourcen benötigt, um die Infrastruktur hinter der Digitalisierung zu betreiben. Dabei fehlt es den Unternehmen nicht selten an Augenmaß. Oft werden erst einmal alle Daten gesammelt, ohne zu wissen, ob diese dem späteren Prozess dienen. Dies steht konträr zum Datenminimalismus, den auch die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) fordert.

Damit die Digitalisierung der Nachhaltigkeit dient, braucht es den Aufbau von Know-how. Der D21-Digital-Index zeigt wie auch andere Studien, dass den Menschen Wissen über den Einfluss von Technologien auf die Umwelt fehlt. Dass dort mitunter komplexe Wechselwirkungen und -beziehungen herrschen, steht außer Frage. Umso wichtiger ist es, die Erkenntnisse der Forschung praxisnah zu kommunizieren. Nur mit einem breiten Wissen über die Wirkungen können die negativen Folgen gemindert werden. Es braucht zudem Leitplanken, die ein Agieren für Unternehmen sicherer und verlässlicher machen.

Gefragt, wer am meisten dazu beitragen kann, dass digitale Anwendungen und Geräte die Umwelt und das Klima weniger belasten, konnten die Bürger*innen nicht klar eine*n Akteur*in identifizieren: Die meisten sehen hier die wissenschaftliche Forschung ganz vorn (28 Prozent). Etwas weniger glauben, Politik (22 Prozent) oder Wirtschaft (19 Prozent) könne hier am meisten tun, und 16 Prozent denken, die Bürger*innen selbst hätten vor allem als Individuen ein hohes Handlungspotenzial. Wie bewerten Sie die Einflussmöglichkeiten dieser Akteur*innen und wo liegen Ihrer Meinung nach jeweils die größten Hebel?

Es scheint wie ein klassisches Henne-Ei-Problem. Doch möchte ich einen Akteur aus dieser Rechnung nehmen: die Bürger*innen. Damit digitale Technologien nicht die Klimakrise beschleunigen, braucht es eine systemische Lösung, welche in einem Zusammenspiel aus Politik und Wirtschaft entwickelt werden muss. Es ist eine proaktive und gestalterische Herangehensweise der Politik notwendig, damit ein rechtssicheres Fundament entsteht, in dem die ökologischere Lösung keine individuelle Entscheidung sein darf, sondern als Standard gesetzt ist. Das ist meiner Meinung nach der größte Hebel, allerdings fehlt es dafür an einer klaren Vision. Mit einer starken Vision würde es allen leichter fallen, notwendige Maßnahmen abzuleiten und diese daran zu messen, wie sehr sie zur Erreichung der Vision beitragen – dies ist aktuell nicht zu erkennen.

Der Wirtschaft beziehungsweise den Unternehmen kommt in der Transformation zwar eine Schlüsselrolle zu, sie brauchen aber Unterstützung beim Umbau von Geschäftsmodellen und der Einführung von digitalen Technologien. Ein gezieltes Maßnahmenpaket, welches ökologischere Optionen bevorzugt – so wie es zum Beispiel im „Green Deal“ angedacht ist – kann als Boost für die Transformation fungieren.

Die Wissenschaft liefert durch ihre Forschung die Grundlage und das Verständnis für die Wechselwirkung zwischen ökologischer Nachhaltigkeit und Digitalisierung. Dabei ist die Wissenskommunikation entscheidend, da die Erkenntnisse in die breite Masse verbreitet werden müssen.

Abschließend möchte ich zu den Einflussmöglichkeiten sagen, dass die Zukunft nicht an Entscheidungen von Einzelpersonen festgemacht werden darf, sondern an einem klaren Willen zum Wandel und zur Bekämpfung der Klimakrise mithilfe digitaler Technologien. Probleme zu individualisieren, darf nicht die Lösung sein – deshalb habe ich anfänglich die Bürger*innen aus der Rechnung herausgenommen.

Wir haben nachgefragt, ob denn die Akteur*innen, denen die Bürger*innen jeweils das größte Handlungspotenzial zusprechen, dies auch schon ausreichend nutzen. Die Bürger*innen sind sich bei allen Akteur*innen einig: Sie könnten mehr tun. Vor allem die Politik tut ihrer Ansicht nach noch nicht genug. Woran liegt das Ihrer Meinung nach? Sehen die Bürger*innen viele (erfolgreiche) Maßnahmen nicht oder existiert tatsächlich eine große Lücke zwischen Handlungspotenzial und tatsächlichem Handeln?

Ich denke, dass es eine Mischung aus verschiedenen Facetten ist. Da wäre vor allem das Silodenken: Viel zu oft wird noch in Ressorts, Branchen oder Abteilungen gedacht und nicht auf Synergien zwischen einzelnen Maßnahmen in unterschiedlichen Bereichen fokussiert. Daraus entsteht die Herausforderung, dass gute Lösungen auch entsprechend kommuniziert und zugänglich gemacht werden müssen. Das ist zwar ein Kernstück eines guten Wissensmanagements in Unternehmen, in einem größeren Bild zeigt sich aber, dass Lösungen in Unternehmen verharren oder nicht in den Markt dringen, weil die Ressourcen von (jungen) Unternehmen limitiert sind und kein großes Marketingbudget vorhanden ist.

Die Lücke zwischen Wissen und Handeln zu schließen, ist eine Herkulesaufgabe – doch man kann mit zielgerichteten Maßnahmen darauf einwirken. Beispielsweise indem die Transparenz in Produkten und Prozessen gefördert wird. Dies kann zum Beispiel durch flexiblere Arbeitszeitmodelle und dadurch notwendige asynchrone Abstimmungswege in Unternehmen entstehen. In der gesamten Wirtschaft kann ein digitaler Produktpass die notwendige Transparenz schaffen, damit Reparaturen auch außerhalb von Partnerbetrieben der Ursprungshersteller durchgeführt werden können. Nur mit einer gegebenen Transparenz können fundierte Entscheidungen getroffen werden: auf politischer Ebene darüber, wohin entsprechende finanzielle Ressourcen fließen, oder bei Konsument*innen, die eine solidere Kaufentscheidung treffen können.

Apropos Lücke: Nicht nur in unserer Studie, auch in anderen Untersuchungen taucht immer wieder der sogenannte Value-Action-Gap auf, also die Lücke zwischen der bewussten Wichtigkeit des Themas Umwelt- und Klimaschutz auf der einen und der dazugehörigen Handlung auf der anderen Seite. So sagen vor allem Menschen, die die Digitalisierung stark nutzen und das Gefühl haben, von ihr zu profitieren, dass es ihnen sehr schwer fiele, ihr digitales Verhalten zum Wohle der Umwelt zu verändern. Beinahe die Hälfte der Befragten gibt an, bisher keine der in der Studie abgefragten digitalen Möglichkeiten genutzt zu haben, um mehr für Umwelt und Klima zu tun. Sie beschäftigen sich ebenfalls viel mit der Frage, wie die Lücke zwischen Wissen und Handeln geschlossen werden kann. Was sind Ihre Erkenntnisse: Woher kommt diese Lücke und wie kann sie geschlossen werden?

Sie entsteht wesentlich aus dem fehlenden Know-how und kann somit nur mit dem Aufbau und dem Verbreiten von Wissen geschlossen werden. Nicht nur den Bürger*innen fehlen Informationen über die Auswirkungen von digitalen Technologien – auch den Unternehmen und der Politik. Es ist ein gesellschaftliches Thema, welches stärker in der institutionellen Bildung verankert werden muss.

Die Herausforderungen, die durch die Unwissenheit entstehen, lassen sich exemplarisch gut am Beispiel eines Unternehmens aufzeigen. Dadurch, dass die Unternehmen kein Wissen darüber haben, welche Auswirkungen Technologien haben, ist es auch schwer zu erfassen, wie diese am besten in die Prozesse integriert werden können. Hinzu kommt, dass sich damit der Nutzen schwerer abschätzen lässt, was wiederum eine Beurteilung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses erschwert. Ich nehme oft wahr, dass der Wandel durch dieses unklare Verhältnis – aus Angst vor hohen Verlusten im Prozess – nicht angegangen wird.

Neben Know-how ist auch Inspiration für Einsatzfelder wichtig, damit erdacht werden kann, was möglich ist. Gerade für den Einsatz von Technologien zur Wahrung der ökologischen und Achtung der sozialen Grenzen sind Beispiele, wie es mit einfachen Kniffen gelingen kann, wichtig. Es sind diese Leuchttürme, die die Hürden absenken und zeigen können: So schwer ist es nicht – fang einfach an!

Wir haben die Bürger*innen außerdem gefragt, was ihnen persönlich am meisten helfen würde, um ihren digitalen ökologischen Fußabdruck zu verbessern. Es zeigte sich, dass Maßnahmen, die mit individuellen Mehrkosten verbunden sind, seltener als hilfreich empfunden werden (Einpreisung des CO2-Ausstoßes, Zertifikate, die man erwerben kann zum Ausgleich des eigenen Verbrauchs). Vielmehr wünschen sich die Menschen bessere Information und Transparenz zum Einfluss ihres digitalen Verhaltens auf die Umwelt sowie Anreize wie Prämien für umweltschonendes Verhalten, aber auch gesetzliche Vorgaben wie ein Recht auf Reparatur. Was glauben Sie: Welche dieser Maßnahmen würde wirklich einen Unterschied machen? Liegt es wirklich an fehlendem Wissen und Anreizen? Wie könnten entsprechende Maßnahmen aussehen?

Grundsätzlich sollten Maßnahmen so gestaltet sein, dass sie eine Hebelwirkung in der Wirtschaft entfalten und nicht den privaten Haushalten zur Last fallen. Wie meine ich das? Zum Beispiel kann der CO2-Preis ein wirkmächtiges Werkzeug sein, wenn er so gestaltet ist, dass er Innovationen befördert: Dadurch, dass Emissionen bepreist werden, erhält der Markt einen monetären Anreiz für (innovative) Ideen, um die Emissionen zu reduzieren. In der aktuellen Form belastet der CO2-Preis die gesamte Gesellschaft – Unternehmen wie auch private Haushalte –, da diese Kosten an die Konsumierenden weitergeben werden. In einem Wechselspiel aus Maßnahmen, beispielsweise aus dem CO2-Preis und einem zeitgleichen Klimageld, würde eine solche Hebelwirkung hervorgerufen und die Belastung für die privaten Haushalte gemindert werden.

Die effektivste Maßnahme ist es meiner Meinung nach, einen „Klimaschutz by Default“ einzurichten – also als Standardeinstellung bei allen politischen Aktivitäten. Subventionen, Maßnahmen und Konjunkturpakete sollten auf den Klimaschutz einzahlen und sich dahingehend auch überprüfen lassen. Ein Beispiel hierfür ist das Recht auf Reparatur oder Reparatur-Gutscheine, wie es sie bei unseren skandinavischen Nachbarn gibt. Zum einen entstehen dadurch neue Geschäftsfelder und die regionale Wertschöpfung wird gestärkt. Zum anderen wird die Sensibilität für den Wert von Produkten und den Erhalt dieser gefördert.

Es braucht starke Anreize für einen ökologische Transformation, doch viel zu oft nehme ich wahr, dass wir uns in Grabenkämpfen und im Klein-klein verstricken. Solche Kämpfe führen dazu, dass das größere Ganze aus dem Blickfeld gerät, was aber notwendig für das Gelingen einer Digitalisierung im Sinne der ökologischen Nachhaltigkeit wäre.

Wenn ich Sie nach einer Empfehlung dazu fragen würden, wie die Digitalisierung zum Gelingen des Grünen Wandels beitragen kann – was wäre Ihre Antwort?

Meine Empfehlung wäre es, eine klare Vision und einen entschlossenen Willen zum Handeln zu entwickeln. Das bezieht sich auf eine gesamtgesellschaftliche Transformation, die vom politischen Akteur gestaltet wird, wie auch auf die Transformation in Unternehmen. Es ist wichtig, klar zu definieren, wie die jeweiligen Klimaziele aussehen, und dann digitale Technologien vor ihrem Einsatz auf ihren Beitrag zur Zielerreichung zu prüfen.

Oft werden Spill-Over Effekte, die auf diesem Weg entstehen, vernachlässigt. Doch am Beispiel der Mondmission in den 1960er Jahren sieht man, dass sie erheblich sind. Mit der Vision, den ersten Menschen auf den Mond zu befördern, sind nicht nur neue Isolierungen und Computergenerationen entstanden, sondern auch das CT (Computertomographie), Babynahrung, Bluetooth und vieles mehr, das wir aus unserem heutigen Alltag nicht mehr wegdenken könnten.

Die Digitalisierung kann einen wesentlichen Beitrag zum Gelingen des Grünen Wandels leisten – allerdings muss sie mit Augenmaß eingesetzt werden, was meine zweite zentrale Empfehlung ist. Die erfolgreiche Integration digitaler Technologien im Sinne der Nachhaltigkeit erfordert auch eine sorgfältige Abwägung von Datenschutz, -sicherheit, ökologischen Auswirkungen und ethischen Überlegungen, um sicherzustellen, dass die Vorteile der Digitalisierung im Einklang mit den umweltfreundlichen und sozialen Zielen stehen.

Wenn Sie sich die Ergebnisse unserer Studie ansehen: Welches Ergebnis hat Sie besonders überrascht, sei es positiv oder negativ?

Beim ersten Lesen hat mich überrascht, dass die wissenschaftliche Forschung als wichtigster Baustein angesehen wird, damit digitale Technologien im Einklang mit der Nachhaltigkeit stehen. Das stimmt auf jeden Fall. Es ist wichtig, zu erforschen, welche Auswirkungen die Technologien haben, gerade auch in der Beanspruchung limitierter Ressourcen. Hier ist weitere Forschung essenziell, insbesondere im Bereich von Substituten seltener Rohstoffe, die besonders im Bereich der Hardware stark beansprucht werden.

Es ist aber auch nicht so, dass noch gar kein Wissen über die Wechselwirkungen vorhanden wäre. Spätestens seit dem umfassenden Hauptgutachten des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesregierung für globale Umweltveränderungen (WBGU) aus dem Jahr 2019 sind viele Fakten über die Wechselwirkung digitaler Technologien mit Nachhaltigkeit gebündelt veröffentlicht worden. Hier offenbart sich das Problem, dass dieses Wissen nur einem gewissen Kreis von Menschen bekannt ist, und davon noch einmal weniger es in das tatsächliche Handeln mit einfließen lassen. Es muss also eine Kommunikation des Wissens entwickelt werden, die möglichst viele Menschen erreicht. Auch außerhalb des wissenschaftlichen Kontextes müssen Zugänge eingerichtet werden. Insbesondere die Babyboomer- und Nachkriegsgenerationen haben angegeben, dass ihnen wissenschaftliche Forschung fehlt. Diese sind tendenziell zeitlich am weitesten von institutioneller Bildung und somit dem Umgang mit wissenschaftlichen Veröffentlichungen entfernt. Es braucht eine Aufbereitung des Wissens in einer Form, die im Alltag Platz findet und gerne konsumiert wird – snackable Content.

Mich hat bei einem genaueren Blick in die Daten positiv gestimmt, dass junge Menschen (Generation Z und Y) eine Sensibilität für Second-Hand-Produkte haben. Es bleibt zu hoffen, dass dies nicht nur an aktuellen (Mode-)Trends liegt, sondern eine entsprechende Grundhaltung ist.

Gibt es abschließend etwas, dass Sie uns noch zu diesem Thema mitgeben wollen?

Die Zahlen mögen auf dem ersten Blick etwas ernüchternd sein. Mir machen sie aber auch Mut, da noch viele Potenziale erschlossen werden können. Wir sind mitten in der Transformation und in multiplen Krisen. Es erfordert viel Mut und entschlossenes Handeln, damit die Nachhaltigkeit nicht zu kurz kommt. Sich dafür einzusetzen und stark zu machen, lohnt sich aber. In der Arbeit bei der Stiftung sehe ich immer wieder hervorragende Ideen und erlebe motivierte Menschen, die die Zukunft gestalten wollen. Ich möchte auch Sie einladen: Gestalten wir gemeinsam die Zukunft und versuchen, die digitalen Technologien konsequent in den Dienst der ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit zu stellen. Im Moment ist vieles in Bewegung, unter anderem entstehen auf europäischer und nationaler Ebene viele Rahmenwerke, die die Transformation flankieren. Genau jetzt ist also der richtige Zeitpunkt, um anzufangen, digitale Technologien mit Nachhaltigkeit in Einklang zu bringen und neue Felder für sich zu entdecken. Haben Sie Zukunftsmut und machen den ersten Schritt!

Das Interview führte

Porträt von Sandy Jahn

Sandy Jahn, Referentin Strategic Insights & Analytics