Demokratie in Gefahr: Digitale Information und Kommunikation im Superwahljahr 2024

Interview mit Pia Lamberty zum Kapitel „Information und Kommunikation“ im D21-Digital-Index 2023/2024

Porträt von Pia Lamberty in einem schwarz-weiß-Effekt

Frau Lamberty, Sie sind Geschäftsführerin und Mitgründerin des Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS), welches interdisziplinäre Expertise zu den Themen Verschwörungsideologien, Desinformation, Antisemitismus und Rechtsextremismus zusammenbringt. Als Expertin auf diesem Gebiet, was würden Sie sagen: Welchen Einfluss hat die Digitalisierung auf diese Themen, welche Veränderungen beobachten Sie?

Wir sehen auf der einen Seite, dass gesellschaftliche Probleme gern auf die Digitalisierung geschoben werden. Rechtsextremismus ist dann kein Thema unserer gesamten Gesellschaft, sondern wird auf Soziale Medien als alleinige „Schuldige“ ausgelagert.

Auf der anderen Seite spielen digitale Räume natürlich eine große Rolle für radikale Haltungen. Wenn „früher“ vielleicht eine kleine Gruppe von Personen zusammenkam, finden sich jetzt viel schneller und einfacher viele Menschen mit ähnlichen Haltungen. Man darf nur nicht den Fehler machen, es allein auf „das Internet“ zu schieben. Ich würde mir häufig mehr Komplexität in solchen Debatten wünschen. 

Mir macht der negative Einfluss von Social Media auf Gesellschaften große Sorge. Wir sehen, welche Probleme fehlende Content-Moderation und strukturelle Probleme hervorrufen. Autoritäre Akteur*innen nutzen dies gezielt aus. Desinformation wird zum immer größeren Problem, und das in einer sehr instabilen Lage. Die Studie zeigt auch sehr deutlich, dass sich ein Großteil (73 Prozent) mehr verbindliche Regeln in Sozialen Netzwerken wünscht.

Mit ChatGPT hat sich vor allem unter sehr digital affinen Gruppen wie Schüler*innen und jungen Erwachsenen, aber auch Menschen mit Büro- und Schreibtischjob eine Anwendung generativer KI bereits stark verbreitet. Am häufigsten wird es genutzt, um Texte zu schreiben und Informationen zu suchen. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Unsere Vorstellung von Kompetenzen und Wissen ändert sich durch die Digitalisierung im Allgemeinen und Künstliche Intelligenz im Speziellen grundlegend. Im Rahmen von ChatGPT und ähnlichen Anbietern ist die Kompetenz dann beispielsweise weniger das selbständige Verfassen von Texten, sondern eher die Qualität der Anforderungen, den sogenannten „Prompts“, die man an den Text stellt.

Wichtig ist, dass Menschen verstehen, dass ChatGPT keine ausführlichere Variante einer Suchmaschine ist, sondern ganz anders funktioniert. Über KIs können Falschinformationen, Propaganda und antisemitische oder rassistische Hetze verbreitet werden. Die Nutzenden denken aber, dass sie es mit objektivem Wissen zu tun haben. 

Leider sehen wir auch im Kontext von KI ein altbekanntes Muster: Neue Technologien werden entwickelt und auf den Markt gebracht, ohne dass die negativen Konsequenzen vorher genug evaluiert und minimiert wurden. Gerade in dieser so fragilen Zeit finde ich das fatal.

Bereits seit einigen Jahren messen wir in unserer Studie, dass die Bürger*innen zwar sehr wohl in der Lage sind, digital nach Informationen zu suchen, sich aber gerade mal die Hälfte zutraut, die Richtigkeit dieser Informationen und ihrer Quellen zu beurteilen. Auch unseriöse Nachrichten als solche zu erkennen, traut sich nur etwas mehr als jede*r Zweite zu. Woran liegt das Ihrer Meinung nach, warum ist die Informationskompetenz in Deutschland so gering ausgeprägt?

Erst einmal muss eine gewisse Unsicherheit bei der Bewertung von Informationen nicht automatisch etwas Schlechtes sein. Wir sind ja alle nur in ganz wenig Themen Expert*innen. Problematisch finde ich, wenn Menschen annehmen, dass sie sich zu allen Themen kompetent äußern können. Selbstüberschätzung, das zeigen Studien, kann schlussendlich sogar dazu führen, dass Menschen eher dazu neigen, Falschinformationen zu verbreiten.

Dennoch muss man sich natürlich die Frage stellen, ob es genug Kompetenzen im Umgang mit unserer digitalisierten Welt gibt, und das würde ich im Einklang mit den Daten auch eher verneinen. Mein Eindruck ist: Wir befinden uns vielfach noch in der „digitalen Grundschule“, bräuchten aber eigentlich alle schon einen Masterabschluss. Gerade durch neue technologische Entwicklungen, aber auch durch Veränderungen der geopolitischen Lage sind Menschen zusätzlichen Herausforderungen ausgesetzt. Zusätzlich kommt hinzu, dass es bei der Verbreitung von Falschinformationen nicht nur um Kompetenz geht, sondern auch um eigene Ideologien. Medienkompetenz allein genügt leider nicht.

Dieses Jahr ist ein sogenanntes Superwahljahr: Weltweit finden mehr als 70 Wahlen statt, darunter die US-Präsidentschaftswahl und gleich mehrere Landtagswahlen in den ostdeutschen Bundesländern. Dabei werden digitale Information und Kommunikation einen großen Faktor spielen. Was erwarten Sie mit Blick auf die kommenden Wahlen, vielleicht auch im Vergleich zu den Wahlen vor 4 bis 5 Jahren?

In den USA wurden Desinformation und Verschwörungserzählungen im Kontext von Wahlen in den letzten Jahren zu einem immer größer werdenden Problem, das auf eine sehr stark polarisierte Gesellschaft trifft. In Deutschland gab es zwar beispielsweise im Kontext der Bundestagswahl 2021 auch Kampagnen, allerdings in einem geringeren Ausmaß als befürchtet. Dies könnte sich 2024 noch einmal massiv verschärfen – auch in Anbetracht geopolitischer Entwicklungen und der globalen Schwächung der Demokratie.

Ich gehe davon aus, dass von autoritären Kräften und auch Staaten versucht werden wird, die Zustimmung zur rechtsextremen „Alternative für Deutschland“ (AfD) noch einmal zu verstärken und das Vertrauen in Wahlen zu untergraben. Die AfD ist ja bekannt für ihre Verstrickungen nach Russland. Insofern wäre es wenig überraschend, wenn Russland versuchen würde, die Wahlen stärker für sich zu nutzen, als es noch 2021 der Fall war.

Im Superwahljahr 2024 haben wir das erste Mal die Situation, dass Künstliche Intelligenz einem breiten Publikum zur Verfügung steht. Das wird sich sicherlich auch auf die verschiedenen Wahlen direkt auswirken. Für Menschen wird es dann immer schwieriger, Wahres von Falschem zu unterscheiden. Übrig bleibt oft das Gefühl, dass es gar keine Wahrheit mehr gibt. Auch das kann für eine Demokratie gefährlich werden.

Zusätzlich sehen wir gerade einen Umbruch bei der Nutzung von Sozialen Medien. Mit den Änderungen bei Twitter/X sind neue Soziale Medien hinzugekommen und andere haben mehr Aufmerksamkeit erfahren. Private Messenger-Apps verhalten sich zusehends ähnlich wie Soziale Netzwerke. Auch das wird sich alles auf das Thema Wahlen auswirken.

Wir haben jetzt viel über die Gefahren der Digitalisierung für die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt gesprochen, lassen Sie uns vielleicht auch noch einmal auf die Chancen schauen. Wo sehen Sie die Chancen, wo den Mehrwert der Digitalisierung für die Art und Weise, wie sich Menschen heute informieren und am gesellschaftlichen und politischen Diskurs beteiligen?

Jugendliche vor 30 Jahren hatten es viel schwerer, an Informationen oder Netzwerke zu kommen. Wer auf dem Dorf lebte, konnte sich vielleicht über die lokale Bücherei informieren und hatte weniger Zugang zur Welt. Heute ist das anders. Gerade für marginalisierte Personen ist das eine wichtige Ressource, weil sie Erfahrungen mit anderen Menschen teilen können.

Digitalisierung bietet an sich Chancen, Barrieren abzubauen. Das können beispielsweise besser zugängliche Texte sein, genauso wie die Möglichkeit, online zu studieren. Es gibt auch viel mehr Möglichkeiten, Diskurse aktiv zu gestalten. Auch in der Studie sagten 40 Prozent, dass sie sich durch das Internet leichter gesellschaftlich einbringen können. Das ist eine wichtige Entwicklung für eine plurale Gesellschaft.

Wenn man Sie nach einer oder auch mehreren Empfehlungen fragen würden, wie genau diese Chancen noch besser genutzt werden können und wie wir es gleichzeitig schaffen, die Gefahren und Herausforderungen zu meistern, was wäre Ihre Antwort?

Es ist wichtig, dass wir bessere gesellschaftliche Vorstellungen davon haben, wie das Netz überhaupt funktioniert. Gibt es Filterblasen oder ist das eher ein Mythos? Hilft Gegenrede gegen Vorurteile oder führt es zu mehr Konflikten? Aus meiner Sicht können wir nur gute Antworten finden, wenn wir eine gute Analyse haben. Viel zu oft wird da aber eher mit dem eigenen Bauchgefühl argumentiert und wissenschaftliche Erkenntnisse außen vor gelassen.

Wenn Sie sich die Ergebnisse unserer Studie ansehen: Welches Ergebnis hat Sie besonders überrascht, sei es positiv oder negativ?

Spannend fand ich die Frage, inwiefern Menschen überhaupt die verschiedenen Begriffe kennen. Mehr als jede achte Person (14 Prozent) gab an, den Begriff Desinformation nicht zu kennen; 36 Prozent wussten nicht, was ChatGPT ist. Wir leben in einer Zeit, in der der gesellschaftliche Wandel rasend schnell vonstattengeht. Wichtig ist, dass wir darauf achten, Menschen mitzunehmen – und zwar über alle Generationen hinweg.

Gibt es abschließend etwas, dass Sie uns noch zu diesem Thema mitgeben wollen?

Danke für eure Arbeit!

Das Interview führte

Porträt von Sandy Jahn

Sandy Jahn, Referentin Strategic Insights & Analytics