Warum wir Zukunft „rückwärts“ denken sollten

Zukunftsforscher Sven Gábor Jánszky spricht auf dem #D21talk über die Messbarkeit von Wirkungen als Voraussetzung für zukünftigen Fortschritt, die Methode des Backcasting für innovative Zukunftsstrategien und den Reality Gap bei unserer Resilienz im digitalen Wandel.

Zukunftsforscher Sven Gábor Jánszky bei seiner Keynote. Er hat die Arme weit ausgebreitet.
Zukunftsforscher Sven Gábor Jánszky bei seiner Keynote.

„Lieben Sie die Zukunft?“ – fragt einer der bekanntester Zukunftsforscher Deutschlands, Sven Gábor Jánszky, provokant ins Publikum und bringt die Köpfe der über 180 Anwesenden im Amplifier in Berlin zum Rauchen. Es ist der 27. Februar 2023 und anlässlich der Veröffentlichung der Studie D21-Digital-Index 2022/2023 findet der #D21talk – Fachkongress Digitale Gesellschaft in Berlin statt. 

Die Veranstaltung greift analog zur Studie die Themen der digitalen Wertschöpfung und der resilienten Gesellschaft im digitalen Wandel auf und ermöglichte einen angeregten Austausch der Gäste, politischer Entscheidungsträger*innen, Expert*innen aus der Wissenschaft, Vertreter*innen von diversen Unternehmen und der Akteur*innen der Zivilgesellschaft zu den Ergebnissen der Studie. Den Verlauf der Veranstaltung können Sie im Nachbericht gerne nachlesen. Ein zusätzlicher Mitschnitt erlaubt es auch, alle Veranstaltungsformate in Gänze nachzuschauen.

„Lieben Sie die Zukunft?“, wiederholt Jánszky. „Denn wir haben keine Wahl, außer uns und unsere Mitmenschen dazu anzuhalten, uns mit ihr zu beschäftigen.“ Mit seiner Keynote „Wieviel Mensch verträgt die Zukunft?“ setzt der Zukunftsforscher den Impuls, weit in die Zukunft zu denken, und öffnet die Köpfe der Anwesenden für neue Ideen.

Digitalisierung? Mehr als Remote Work

„Bei Digitalisierung geht es nicht um Homeoffice und Apps“, scherzt Jánszky. „Das ist wirklich nur ein Bruchteil von Digitalisierung“. Der Zukunftsforscher sieht den digitalen Wandel als globalen Prozess, der auf drei Prinzipen fußt:

  • Wir können alles messen.
  • Alles, was wir messen können, können wir prognostizieren.
  • Alles, was wir prognostizieren können, können wir verbessern.
Sven Gábor Jánszky gestikulierend in einer Nahaufnahme.

Damit kann und sollte stets die Verbesserung der Lebensumstände aller Menschen im Mittelpunkt der Digitalisierung stehen. Was für uns heute noch wie ein Szenario aus einem Science-Fiction-Film wirkt, könnte in naher Zukunft schon zur Realität werden. „Auch wenn es für Sie unvorstellbar ist – für meine Kinder wird es höchstwahrscheinlich normal sein, mit ihren verstorbenen Großeltern zu telefonieren.“ Jánszky rüttelt weiter an den Glaubenssätzen des Publikums: 

Vertrauen Sie den Möglichkeiten der Zukunft mehr als Ihren Erfahrungen in der Vergangenheit. Nur so lässt sich die Frage nach Resilienz der (digitalen) Gesellschaft beantworten.
Sven Gábor Jánszky, Zukunftsforscher

Um das eigene Denken in Hinblick auf die Zukunft chancenorientierter zu gestalten, gibt Jánszky dem Publikum direkt eine konkrete Strategiemethode an die Hand: das Backcasting.

Backcasting – Zurück in die Zukunft

Wer fit für die Zukunft sein will – egal ob Kleinunternehmen, Ministerium, Institut oder Konzern –, nutze meist immer noch die Methode des Benchmarkings, so Jánszky. Dabei gehe es darum, die beste Person eines bestimmten Felds zu identifizieren und diesem Vorbild nachzustreben. „Für uns Zukunftsforscher hört es sich an, als würde man an einem Wettbewerb teilnehmen, an dem der Gewinner bereits vor dem Start feststeht“, kritisiert der Wissenschaftler. „Das ist wenig zukunftszugewandt und raubt Kreativität“. Um sich resilient für die Zukunft aufzustellen, empfiehlt Jánszky dem Publikum das Backcasting als Strategiemethode der Zukunftsforscher*innen.

Sven Gábor Jánszky bei seiner Keynote in einer Nahaufnahme vor der Powerpoint-Präsentation.
Eine Aufnahme von der Seite durch verschiedene Personen im Publikum fotografiert, rechts im hintergrund erkennt man die Bühne des D21talk mit Sven Gábor Jánszky.

Backcasting beginnt mit der Definition einer wünschenswerten Zukunft und arbeitet dann rückwärts, um Richtlinien und Programme zu identifizieren, die diese bestimmte Zukunft mit der Gegenwart verbinden. Man beginnt den Strategieprozess beispielsweise mit der Erstellung eines wahrscheinlichen Zukunftsbildes der eigenen Branche in zehn Jahren. Rückbetrachtend aus der Perspektive des Zehn-Jahres-Zukunftsbildes wird dann der letzte strategische Schritt beschrieben, der im Jahr Neun gegangen werden müsste, um den Status des Jahres Zehn zu erreichen. Danach wird der vorletzte strategische Schritt analysiert, der im Jahr Acht gegangen werden müsste, um den Status des Jahres Neun zu erreichen. Und so weiter …

Sven Gábor Jánszky gestikulierend auf der Bühne des D21talk

Auf diese Weise entstehen exponentiell ansteigende Strategiekurven, die sich erheblich von den üblichen mit Benchmarking erarbeiteten Strategiemethoden unterscheiden würden. „Wenn wir in die Zukunft aus dem Hier und Jetzt projizieren, beeinflussen unsere heutigen Denkmuster unsere Zukunftsplanung“, erläutert Jánszky. „Die Wahrscheinlichkeit ist jedoch sehr groß, dass unsere heutigen Denkmuster in einer Welt von morgen nicht mehr relevant sein werden.“ Deshalb stellt Backcasting das Zukunftsbild oder die wünschenswerte Zukunft an den Beginn des Planungsprozesses und plant die Entscheidungen „rückwärts“.

Der Reality-Gap und Resilienz

Das Publikum bei der Keynote von Sven Gábor Jánszky

Erneut greift Jánszky das Thema Resilienz auf, das in diesem Jahr durch einen neuen zukunftsgewandten Resilienzindikator im D21-Digital-Index abgebildet ist. Die neue Kenngröße trägt dazu bei, besser zu verstehen, wie gut die Gesellschaft bereits gewappnet ist für die Herausforderungen der digitalen Transformation. Im Kontext der Digitalisierung wird unter Resilienz die zentrale Eigenschaft verstanden, souverän mit Umbrüchen und Herausforderungen des digitalen Wandels umgehen zu können. Beim Thema Resilienz spielt es für Jánszky eine große Rolle der Zukunft optimistisch zu begegnen.

„Ich als Zukunftsforscher brauche keine Resilienz“, lacht Jánszky.

Wenn man sich mit den Veränderungen, die in der Zukunft passieren, beschäftigt und die richtige Prognose im Kopf hat, braucht man keine Resilienz. Dann hat man diese ganzen Veränderungen nämlich schon vorhergesehen.
Sven Gábor Jánszky, Zukunftsforscher
Sven Gábor Jánszky steht vor seiner Präsentation, die hinter ihm auf einem riesigen Bildschirm gezeigt wird, und zeigt dem Publikum mit dem Finger etwas darauf.

Mit dem provokanten, rhetorischen Aufhänger spielt Jánszky darauf an, dass Zukunftsforschung sein persönlicher Weg ist, Resilienz zu erlangen. Und um Resilienz zu erlangen, sei es wichtig, sich über den eigenen „Reality Gap“ im Kopf bewusst zu werden. Der Reality Gap beschreibt die Lücke zwischen zwei Zukunftsprognosen. Zum einen gibt es die Menschen, die optimistisch sind, dass wir die großen Herausforderungen unserer Zeit mit den Entwicklungen der Zukunft lösen können. Auf der anderen Seite gibt es die Menschen, die im Hinblick auf die Zukunft eher Bedenkenträger*innen sind. Zwischen den beiden Perspektiven kommt es zu einer Lücke: eben der Reality Gap. Auf diese Lücke stoßen wir überall, in Ministerien über Unternehmen bis hin zu unserem direkten Umfeld von Familie und Freunden. Die tatsächlich eintreffende Realität wird laut Jánszky irgendwo innerhalb dieses Reality Gaps landen. Wichtig ist, dass beide Perspektiven relevant und wichtig für die Gesellschaft und die Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft sind. Für die Resilienz im digitalen Wandel findet Jánszky es aber entscheidend, auch die Visionen der Innovator*innen zuzulassen und ihnen Raum zu geben.

Sven Gábor Jánszky bei seiner Keynote, fotografiert durch die erste Reihe des Publikums, die Dunkel im Vordergrund erscheint.

Laut Jánszky bestimmt der Umgang mit der Reality Gap unsere Resilienz im digitalen Wandel. Ein erster Schritt sei es, uns der Reality Gaps in unserem eigenen Kopf bewusst zu werden und uns in unseren Überlegungen für die Zukunft mehr an den Innovator*innen und Entscheider*innen zu orientieren. Wer sich mehr mit Zukunft beschäftigt und Zukunft entwickeln und gestalten will, werde automatisch resilienter. Und wer die Zukunft liebe, begegne den Veränderungen der Zukunft automatisch mit mehr Resilienz.

Zukunft über den Tellerrand hinausgedacht

Mit der Keynote des Zukunftsforschers konnten die Teilnehmenden des #D21talk die Methode des Backcasting direkt im Kleinen ausprobieren. Während Jánszky die Zuhörer*innen mit auf eine Reise in die ferne Zukunft nahm, wurden in den nachfolgenden Podiumsdiskussionen und Vorträgen von namhaften Speaker*innen wie Dr. Anna Christmann (Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz), Stina Soewarta (Europäische Kommission) oder Dr. Sebastian Buckup (Weltwirtschaftsforum), Konzepte und Ideen für die nähere Zukunft vorgestellt.

Hier können Sie die komplette Keynote von Sven Gábor Jánszky nachschauen:

Porträt von Rebecca van der Meyden

Rebecca van der Meyden, Referentin Öffentlichkeitsarbeit (sie/ihr)