AG Blog | Berufliche Bildung und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts

Anlässlich neuer Anforderungen in einer digitalen Arbeitswelt, wurden konkrete Handlungsoptionen im Bereich der beruflichen Bildung mit Vertreter*innen aus Politik und Praxis diskutiert.

Berlin/virtuell. Gute berufliche Bildung ist eine wichtige Voraussetzung für eine starke Wirtschaft und die Teilhabe und Integration junger Menschen unserer Gesellschaft. Durch die zunehmende Digitalisierung der Arbeitswelt, die durch Corona deutlich beschleunigt wurde, verändern sich die Anforderungen an die berufliche Aus- und Weiterbildung. Dennoch steht in vielen beruflichen Ausbildungen die Themenorientierung vor der Kompetenzorientierung, feste Rahmenlehrpläne und traditionelle Prozesse haben Vorrang vor Innovation und Veränderung. Immer weniger Jugendliche entscheiden sich für eine berufliche Ausbildung. Betriebe klagen über die Schwierigkeit, Ausbildungsplätze zu besetzen. Die Attraktivität der beruflichen Bildung sinkt – möglicherweise auch, weil das Image der Berufsausbildung in einer alten, analogen Welt verhaftet ist.

Das alles wissen wir nicht erst, seit der Bundestag 2018 eine Enquete-Kommission „Berufliche Bildung in der digitalen Arbeitswelt“ eingesetzt hat. Die vergangenen Pandemiejahre haben in vielerlei Hinsicht die Notwendigkeit für Digitalisierung im (Aus-)Bildungswesen gezeigt. Daher hat unsere AG Bildung ihre erste Sitzung im Jahr 2022 genutzt, um die Herausforderungen, vor denen die berufliche Bildung steht, zu reflektieren, vor allem aber auch, um über ganz praktische Handlungsoptionen zu diskutieren.

Modellprojekt: „Bottom-Up statt Top-Down – Fachkarrieren neu gedacht“ in Ostbrandenburg

Modellprojekte können spannende Einblicke in solche konkreten Handlungsoptionen geben. Ein solches stellte Janine Griesche vom QualifizierungsCENTRUM der Wirtschaft Eisenhüttenstadt (QCW) vor. Bei „Bottom-up statt Top-down – Fachkarrieren neu gedacht“ handelt es sich um eins von 17 Projekten, die bei InnoVET, dem Innovationswettbewerb des Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) für eine exzellente berufliche Bildung, bis 2024 ihre Konzepte erproben. In der Modellregion Ostbrandenburg soll berufliche Bildung attraktiver werden und dadurch individuelle Fachkarrieren ermöglichen.

Portrait von Janine Griesche
Janine Griesche während ihres Impuls

Durch eine Kooperation des QCW mit der IHK Projektgesellschaft mbH habe man es geschafft, speziell in der Metall- und Elektrobranche neue Berufswege zu ermöglichen, so Griesche. Diese sollen die Attraktivität der Ausbildung steigern, indem die Auszubildenden durch einen Verkürzungsanspruch weitere Aufstiegs- und Zusatzqualifikationen erlangen können. So werde die berufliche Bildung dem Studium ebenbürtiger. Umgesetzt werde dies auch mit digitalem Lernen. Um diese neuen beruflichen Möglichkeiten zu vermitteln und nachhaltig Strukturen zu beeinflussen, arbeite das Projekt auch mit dem Karrierecenter Ostbrandenburg zusammen. Die Karrierecenter müssen neue Laufbahnkarrieren kommunizieren können, weswegen das Berufsberatungsangebot ausgeweitet worden sei. Dies erfolge parallel zu Gesprächsangeboten in Schulen, auch durch Persönlichkeitstests auf dem Smartphone. Allmählich soll dies in anderen Regionen ähnlich umgesetzt werden. Außerdem bestehe eine Lernkooperation zwischen dem Oberstufenzentrum (OSZ) Oder-Spree und der Schul-Cloud Brandenburg. Fünf Klassen aus den Bereichen Industriemechanik und Anlagenmechanik für Heizungs- und Klimatechnik nutzen die Schul-Cloud, um einen größeren Bezug zwischen Theorie und Praxis zu ermöglichen. In der Evaluierung durch die DigitalAgentur Brandenburg (DABB) stellte man fest, dass dies zunächst gelungen sei. Allerdings sei ein großes Hindernis bei der Umsetzung der kulturelle Aspekt gewesen. Es habe extrem hohe Hemmschwellen bezüglich des digitalen Lehrens gegeben. Bei der Umsetzung musste also sehr behutsam vorgegangen und viel technischer Support für die Lehrenden angeboten werden.

Letztlich fehlte aber nicht nur die Kompetenz, sondern auch das Verständnis bezüglich der Vorteile von Lern-Management Systemen.
Janine Griesche, QualifizierungsCENTRUM der Wirtschaft Eisenhüttenstadt

Ein Zwischenfazit des Modellprojekts laute also, dass für eine größerflächige Umsetzung solcher Systeme deutlich praxisnahe Hilfsangebote benötigt werden, die dann auch möglichst auf das konkrete Lern-Management System bezogen sein sollten. Griesche glaubt, dass es gewisse Verpflichtungen für Weiterbildungen bräuchte, da die Digitalisierung von Bildungsinstitutionen nicht ausschließlich auf Freiwilligenbasis ablaufen könne. In Betrieben seien diese Hindernisse weniger ausgeprägt; dort liege das Problem eher in fehlenden Ressourcen.

Von der Theorie in die Praxis

Aber nicht nur Modellprojekte setzen auf Digitalisierung in der beruflichen Bildung. Auch im Berufsausbildungsalltag gibt es konkrete Beispiele digitaler Bildung. Günter Willmann, Abteilungsleiter der berufsbildenden Schule BBS Brinkstraße in Osnabrück, berichtete der AG von der Eigeninitiative an seinem Schulzentrum. Mit verschiedenen Projekten gelinge es der Schule, besonders zukunftsgewandtes digitales Lernen anzubieten: 

Uns geht es uns darum, leistungsbereite Schüler*innen auszubilden, die Lust haben, digitale Anwendungen und Techniken auszuprobieren und später in ihren Berufsalltag zu tragen.
Günter WIllmann, BBS Brinkstraße

Während der Pandemie habe die Schule zum Beispiel einen integrativen Wechselunterricht umgesetzt, sodass immer ein*e Lernpartner*in mit einem Headset mit einem*r anderen Lernpartner*in verbunden wurde und zuhause bleiben konnte. Das sei aber nur eins von vielen Beispielen für die Osnabrücker Projekte, welche allesamt digitale, innovative und berufsorientierte Kompetenzen stärken. Die BBS Brinkstraße stelle sich gerne als Ansprechpartnerin zur Verfügung, wenn andere Schulen Ideen benötigen, wie man so etwas auch bei ihnen umsetzen könne.

Günter Willmann vor einer Folie seines Vortrags
Günter Willmann über die Eigeninitiative an seinem Schulzentrum

Andreas Schwibach, stellvertretender Leiter beim Amt für berufliche Schulen Nürnberg, ging auf einen weiteren wichtigen Aspekt ein, nämlich den Nutzen der Digitalisierung an Schulen über das Lernen hinaus. Das übergeordnete Ziel sei zwar der digitale Kompetenzaufbau bei den Schüler*innen, doch ließe sich auch in der Schulverwaltung durch die Digitalisierung einiges optimieren. Zentral sei dabei, dass die Digitalisierung nicht allein durch Dienstanweisungen, sondern durch Gelegenheiten digitales Arbeiten erschaffen. Dazu müssten die Schulen überlegen, welche digitalen Anwendungen sie brauchen, statt dass ein Amt eine einzige Strategie flächendeckend vorgebe. Beispiele für solche digitalen Anwendungen sieht Schwibach zuhauf:

  • das Onboarding/Offboarding von Schüler*innen (Accounterstellung, Bücherrückgabe),
  • die Entscheidung zur Zweigwahl und zu Wahlfächern,
  • die Automation von Veranstaltungen (z. B. Elternabenden) mit Anmeldung und Zugangslinks,
  • ein Feedbacksystem für Lehrende.
Andreas Schwalbach neben einer Folie zum Tricke-Down-Effekt digitaler Kompetenzen seines Vortrags
Andreas Schwalbach über den Trickle-Down-Effekt bei digitalen Kompotenzen

Durch viele solcher kleinen Schritte würde sich die digitale Transformation in Teilen sogar verselbstständigen, da die Verwendung dieser digitalen Angebote in der Schulverwaltung die digitale Hemmschwelle einiger Lehrer*innen senken würde. Dafür seien allerdings die richtigen Rahmenbedingungen nötig, allen voran ein innovationsförderliches Umfeld in der Schulverwaltung. Dazu gehört, dass der niederschwellige Einstieg ermöglicht wird und Schüler*innen wie Lehrer*innen die Möglichkeit zur Mitwirkung bekommen. Die umgesetzten digitalen Prozesse könnten dann durch eine Art Trickle-down-Effekt zu digitaler Arbeitserfahrung und Kompetenzaufbau der Lehrkräfte führen:

Wenn wir in der Schulorganisation digitale Prozesse und Tools einbauen, empowern wir durch die Alltäglichkeit des Digitalen auch unsere Lehrkräfte dazu, digitale Tools wie eine Lernschleife mit Kanban-Board auch in den Unterricht einzubauen.
Andreas Schwibach, Amt für berufliche Schulen Nürnberg

Eine solche Strategie brauche aber auch Personal, welches die Aufgabe der Schulentwicklung übernimmt.

Politische Antworten auf die Herausforderungen der Digitalisierung in der beruflichen Bildung

Was sind also die politischen Handlungsnotwendigkeiten in der beruflichen Bildung angesichts all dieser Herausforderungen? Jessica Rosenthal, MdB (SPD), Mitglied im Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung und JuSo-Vorsitzende, beleuchtete abschließend die politischen Positionen hinsichtlich der Digitalisierung in der beruflichen Bildung. Da sie selbst ausgebildete Lehrerin ist und vor ihrem Einzug in den Bundestag auch als solche tätig gewesen ist, sei ihr sehr bewusst, wie ausbaufähig das digitale Lernen an vielen Schulen ist. Deswegen müsse bereits in der Lehrer*innenausbildung ein viel größer Fokus auf dem digitalen Lernen liegen. So könnten die vielen Möglichkeiten, die das digitale Lernen biete, über den Transfer analoger Inhalte hinaus genutzt werden: 

Die Grundlagen für eine digitale Kultur müssen in der Ausbildung gelegt werden. Das gilt sowohl für die Ausbildung der Lehrkräfte als auch für die berufliche Bildung selbst.
Jessica Rosenthal, Mitglied des Bundestags (MdB)

Diese Relevanz habe man auch im Koalitionsvertrag und dem Digitalpakt 2.0 aufgegriffen. Besonders wichtig sei es jetzt, dass in Zukunft die bereitgestellten Gelder besser abfließen. Dann ließe sich auch ein Innovationsschub in Berufsschulen umsetzen, so Rosenthal. Dass das Abrufen der Fördermittel ein extrem bürokratischer Prozess sei, stelle die Schulen hier aber vor große Herausforderungen, so die AG in der Diskussion.

Aus Rosenthals Sicht muss außerdem das Lebenslange Lernen vereinfacht werden, zum Beispiel durch autonomes Online-Lernen. Dann müssten Berufsausbildungen auch nicht zu einem in Stein gemeißelten Beruf führen und es würde eine gewisse Flexibilität in der Lebensplanung erhalten bleiben, wodurch die Attraktivität der Berufsausbildung steigen würde. Die Politik sei dafür verantwortlich, die Berufsschulen dahingehend auszustatten, besonders was digitale Angebote betrifft.

Jessica Rosenthal, MdB im Gespräch mit Cornelia Schneider-Pungs
Jessica Rosenthal im Gespräch mit Cornelia Schneider-Pungs

Insgesamt wurde in dieser AG-Sitzung die zunehmende Notwendigkeit einer beruflichen Bildung, welche Aspekte der Digitalisierung beinhaltet, deutlich. Außerdem leidet eine Berufsausbildung momentan unter im Vergleich zu einem Studium geringeren Attraktivität. Ginge man diese beiden Problemfelder in Zukunft gemeinsam an, ließen sich attraktive, zukunftsorientierte Bildungsmöglichkeiten erschaffen.

Ansprechpartnerin in der Geschäftsstelle

Porträt von Stefanie Kaste

Stefanie Kaste, Stellv. Geschäftsführerin (sie/ihr)