Bildung in Zeiten von Corona – zwischen Videokonferenz und Brief

Von einer flächendeckenden digitalen Bildung sind wir in Deutschland meilenweit entfernt. Andere Länder haben längst vorgelegt und sind uns um viele Jahre voraus. Nur an knapp jeder vierten weiterführenden Schule können die Lehrenden per schuleigener E-Mail Adresse Kontakt zu Schüler*innen halten. An Grundschulen ist die technische Ausstattung noch einmal deutlich schlechter. Dieser Artikel von Sandy Jahn erschien zuerst im Behörden Spiegel.

Er müsse zu viele Löcher gleichzeitig stopfen, klagte mir ein Lehrer kürzlich, als wir über digitale Bildung sprachen. Als Medienbeauftragter seiner Schule liege nicht nur ein medienpädagogisches Konzept sowie die dafür notwendige Hard- und Software in seiner Verantwortung. Er müsse vor allem auch interne Widerstände überwinden: 

„Einige meiner Kolleg*innen – vor allem die Älteren – verweigern sich schon gegenüber einer eigenen E-Mail-Adresse.
Ein Lehrer

Das war noch bevor die Corona-Krise den Alltag und den Schulbetrieb so massiv veränderte. Die Folgen der versäumten Digitalisierung des Schulbetriebs spüren wir jetzt vielerorts.

Von einer flächendeckenden digitalen Bildung sind wir in Deutschland meilenweit entfernt. Andere Länder haben längst vorgelegt und sind uns um viele Jahre voraus. Im EU-Vergleich zu Informations- und Kommunikationstechnologie in Schulen landet Deutschland in vielen Kategorien nicht einmal im Mittelfeld. Nur an knapp jeder vierten weiterführenden Schule können die Lehrenden per schuleigener E-Mail Adresse Kontakt zu Schüler*innen halten. An Grundschulen ist die technische Ausstattung noch einmal deutlich schlechter. Über eine virtuelle Lernumgebung verfügt nur jede zehnte deutsche Grundschule und knapp die Hälfte der weiterführenden Schulen. Zum Vergleich: In den nordischen Ländern sind es zwischen 90 und 100 Prozent der Schulen.

Doch gerade in diesen Tagen, wenn Präsenzunterricht für viele nicht stattfindet, sind digitale Möglichkeiten des Kontakthaltens und Unterrichtens essentiell. Dabei scheitert es nicht nur an der schulischen Ausstattung, sondern auch die Ausstattung zuhause mit digitalen Endgeräten und Infrastruktur ist oft nicht ideal für den Heimunterricht. Gerade einkommensschwache Familien oder Familien mit mehreren schulpflichtigen Kindern verfügen häufig nicht über genügend Computer, sodass maximal das Smartphone zur Verfügung steht. Dies ist vor allem deshalb so eklatant, weil der Bildungserfolg immer noch viel zu sehr von der sozialen Herkunft abhängt. Diese Ungleichheiten verschärfen sich durch eine digitale Spaltung im schlimmsten Fall noch weiter.

Solche Ungleichheiten zwischen gesellschaftlichen Gruppen wiegen jetzt noch schwerer als sonst. Denn der Zugang zur digitalen Welt, welche in dieser Krise Hauptspielort des schulischen, beruflichen und sozialen Lebens geworden ist, variiert stark je nach Bildungsabschluss. 97 Prozent der Menschen mit hohem Bildungsabschluss nutzen das Internet, hingegen nur 64 Prozent derjenigen mit niedriger formaler Bildung. Diese Zahlen stammen aus dem jährlich erscheinenden Lagebericht unserer digitalen Gesellschaft, dem D21-Digital-Index.

Abbildung zu den Unterschieden zwischen den Bildungsabschlüssen bei allen Sub-Indizes
Abbildung 1 Unterschiede zwischen den Bildungsabschlüssen bei allen Sub-Indizes

Neben dem Zugang zu digitalen Geräten und der Infrastruktur ist ein weiterer Faktor entscheidend: Digitalkompetenzen. Die jugendlichen Schüler*innen gehen überdurchschnittlich kompetent mit digitalen Anwendungen um – auch das verrät der D21-Digital-Index. Gerade aber jüngere Kinder brauchen noch stärkere Unterstützung. Da kann es einen entscheidenden Unterschied machen, ob die Eltern sich digital kompetent bewegen und zuhause helfen können oder nicht. Hier drohen besonders diejenigen Kinder weiter abgehängt zu werden, die ohnehin einen schweren Start haben. Unsere Erhebungen zeigen, wie starke Kenntnisse von und souveräner Umgang mit digitalen Medien zwischen verschiedenem Bildungsniveau variieren: Etwa bei Standardanwendungen, Internetrecherchen, Datenschutzfragen oder dem Erkennen vertrauenswürdiger Informationen.

Abbildung zu den Unterschieden zwischen den Bildungsabschlüssen in ausgewählten digitalen Kompetenzen
Abbildung 2 Unterschiede zwischen den Bildungsabschlüssen in ausgewählten digitalen Kompetenzen

Bei Lehrenden hingegen sind andere Faktoren ausschlaggebend. Bei Ihnen kommen einerseits strukturelle Schwierigkeiten zum Tragen, denen sich digitale Bildung gegenüber sieht. Besonders entscheidend für den Einsatz digitaler Möglichkeiten sind aber Offenheit und Interesse an Digitalisierung. Bei gleichen Voraussetzungen beobachten wir derzeit, wie stark sich selbst innerhalb einer Klasse die einzelnen Fächer abhängig von den LehrerInnen unterscheiden können. Die einen organisieren in ihren Klassen virtuelle Konferenzen, halten über verschiedene Anwendungen Kontakt und vergeben individuelle Aufgaben. Die anderen kopieren Arbeitsblätter und verschicken sie dann per Post – wer sich der digitalen Welt nie geöffnet hat, kann nun ihre Möglichkeiten nicht einsetzen. Wie das eigene Kind derzeit mit Bildung versorgt wird, hängt gerade während der Corona-Krise in erheblichem Maße auch vom Zufall ab.

Dies zu ändern, ist eine der drängendsten gesellschaftlichen Aufgaben. In unserer Studie zur Medienbildung an deutschen Schulen haben wir bereits vor einigen Jahren drei wichtige Stellschrauben identifiziert, die nichts an ihrer Aktualität verloren haben: benötigte Infrastruktur bereitstellen, die Medienbildung der Lehrkräfte stärken, sowie strukturelle Verankerung von Medienbildung. Es zeigen sich gerade akut die Versäumnisse der letzten Jahre in diesen Bereichen.

Was also tun? Ein erster Schritt sollte eine Infrastruktur-Bedarfserhebung bei den Schülern sein, um zu gewährleisten, dass alle Zugang zu adäquaten Arbeitsmitteln wie
Software und Geräten erhalten, um digital ihrer schulischen Arbeit nachzugehen. Medienkompetenz für Lehrkräfte ist essentiell, um die Möglichkeiten des digitalen Unterrichts auch nutzen zu können. Es bedarf zentrale ad hoc Schulungen für Lehrkräfte, um den pädagogisch sinnvollen Einsatz digitaler Medien im Unterricht praxisbezogen zu vermitteln. Strukturelle Verankerung in der aktuellen Situation sollte vor allem durch gemeinsam abgestimmte Vorgaben seitens zuständiger Stellen wie Bildungsministerium und KMK geschaffen werden. Es braucht Leitlinien und Empfehlungen, was rechtlich und administrativ in dieser Krise möglich ist. Zum Beispiel, welche digitalen Anwendungen Lehrkräfte nutzen können, um mit ihren Schüler*innen auch digital in Kontakt zu bleiben.

Es liegt derzeit sehr viel Verantwortung bei den Lehrkräften und Eltern, Kindern und Jugendlichen den Zugang zu Bildung weiter zu ermöglichen. Eine Unterstützung könnte das Einbeziehen zivilgesellschaftlicher Initiativen sein, welche ergänzend Angebote bereithalten und bei Bedarf helfen, Kompetenzlücken bei Schüler*innen und vielleicht auch bei deren Eltern und Lehrkräften zu schließen. In herausfordernden Zeiten wieder dieser sollten auch die digital Stärkeren die Schwächeren unterhaken und sie ein Stück weit tragen und begleiten. Sicherlich lernt dann auch der ein oder andere den konkreten Nutzen zu schätzen – und vielleicht haben dann wenigstens alle Lehrkräfte nach der Krise eine eigene E-Mail-Adresse.

Autorin des Artikels

Porträt von Sandy Jahn

Sandy Jahn, Referentin Strategic Insights & Analytics (sie/ihr)