AG-Blog | Digitale Bildung in Nordeuropa: Kontroverse Entwicklungen und Perspektiven

Die AG Bildung diskutiert die kontroversen Entwicklungen in Nordeuropa und die missverstandenen Zusammenhänge zwischen digitalen Medien und Ergebnissen von Bildungsstudien.

Berlin. Zumindest in Europa gelten die skandinavischen Länder Schweden, Norwegen, Dänemark und Finnland als bildungspolitische Sehnsuchtsländer: In allen Bildungsstudien liegen die Schüler*innen dieser Länder zumeist auf den vorderen Plätzen; viele Länder orientieren sich an den Bildungserfolgen dieser Länder. Vor allem im Bereich der digitalen Bildung sind die skandinavischen Länder, aber auch Länder wie Belgien und die Niederlande Vorreiter*innen.

Doch wenn es nach den Plänen der aktuellen Bildungsministerien dieser Länder geht, könnte sich zumindest Letzteres bald ändern. Denn die Strategien zur digitalen Bildung werden derzeit kritisch überdacht, teilweise gibt es bereits konkrete Pläne, die digitalen Uhren zurückzudrehen. Der Nutzen digitaler Bildung wird zunehmend hinterfragt, auch vor dem Hintergrund, dass bisher nicht bekannt ist, welche (positiven wie negativen) Auswirkungen das Unterrichten mit digitalen Hilfsmitteln und Werkzeugen hat. Als Auslöser dieser Entwicklungen werden auch die Ergebnisse aktueller Bildungsstudien wie der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU) genannt, die in einigen Ländern Zusammenhänge zwischen der Bildschirmzeit beim digitalen Lernen und dem Leseerfolg aufzeigen.

Wenn sich die Bildungspolitik bisher an diesen Ländern orientiert hat, was bedeuten diese Entwicklungen für das deutsche Bildungssystem? Die AG Bildung traf sich am 27. September in Berlin, um diese neuen Trends im Bereich der digitalen Bildung einzuordnen und in den gesellschaftlichen und bildungspolitischen Kontext der nordeuropäischen Länder zu setzen.

Beth Havinga während ihres Impuls

Den inhaltlichen Rahmen für die Sitzung lieferte ein Impuls von Beth Havinga, Geschäftsführerin der Edtech Alliance und international tätige Bildungsexpertin. Sie ordnete die in der Öffentlichkeit missverständlich geführten Diskussionen zum Beispiel über die Kausalität und Korrelation von digitalen Medien und schlechten Bildungsergebnissen ein. Häufig liege der Fokus auf den Nachteilen, wobei die Hauptkritikpunkte die hohe Bildschirmzeit von Kindern, das sinkende Lesevermögen und die nachlassende Konzentrationsfähigkeit seien. Schaut man jedoch genauer hin, sind die oft als Tatsache dargestellten Zusammenhänge nicht aus den Forschungsergebnissen abzulesen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die mit der Veröffentlichung der IGLU-Studie verbreitete Aussage in Deutschland, dass die Nutzung digitaler Geräte eine wesentliche Ursache für den diagnostizierten Rückgang an Lesekompetenz sei. 

Schaut man genauer hin, sind die oft als Tatsache dargestellten Zusammenhänge nicht aus den Forschungsergebnissen abzulesen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die mit der Veröffentlichung der IGLU-Studie verbreitete Aussage in Deutschland, dass die Nutzung digitaler Geräte eine wesentliche Ursache für den diagnostizierten Rückgang an Lesekompetenz sei.
Beth Havinga, Geschäftsführerin der Edtech Alliance

Schaut man in die Ergebnisse der IGLU-Studie, kann dieser Zusammenhang nicht gezogen werden, die bestätigte auch Dr. Ramona Lorenz, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Schulentwicklung der TU Dortmund und Mitautorin des Kapitels zur digitalen Bildung in der IGLU-Studie.

Doch nicht nur die korrekte Interpretation der Studienergebnisse, sondern auch die korrekte Zuordnung von eingesetzten Technologien ist Havinga ein Anliegen. So müsse zwischen Technologie entwickelt für Bildung und Technologie angewandt in Bildung differenziert werden. Oft würden Konferenztechnologien oder soziale Netzwerke, die im Bildungsbereich genutzt werden, als EdTech verstanden, obwohl sie es nicht seien. Denn EdTech stehe für „Educational Technology“, also Anwendungen, die gezielt für den Bildungsbereich entwickelt werden, wie zum Beispiel interaktive Lernwerkzeuge, Lernmanagementplattformen oder Online-Tutoring. Einen großen Mehrwert lieferten Statements von EdTech Vertreter*innen aus Schweden, Norwegen, Finnland und den Niederlanden, die Beth Havinga für die AG Sitzung angefragt hatte. (siehe unten)

Diskussionsrunde: Welche Erkenntnisse können wir aus den Entwicklungen in Nordeuropa ziehen?

Die Denkanstöße von Beth Havinga und die Statements der EdTech Vertreter*innen wurden anschließend in einer gemeinsamen Diskussion mit drei weiteren Expert*innen und den Gästen der Sitzung reflektiert. Teil des Panels war Jacob Chammon (Geschäftsführer der Deutschen Telekom Stiftung), gebürtiger Däne mit Lehrerfahrung an dänischen Schulen und Erfahrungen im deutschen Schulsystem als Schulleiter der deutsch-skandinavischen Gemeinschaftsschule in Berlin. Chammon ergänzte die bis dahin genannten Aspekte um das Thema Offenheit. Zunächst habe man in den skandinavischen Ländern eine große Offenheit gegenüber digitalen Anwendungen erlebt, der Entwicklung digitaler Kompetenzen sei jedoch nicht in gleichem Maße Aufmerksamkeit gegeben worden. So gebe es in Dänemark eine gute digitale Infrastruktur, aber die Fähigkeit zur kritischen Reflexion von Technologieanwendungen und Inhalten müssten weiterhin verbessert werden. Deswegen bemühe sich die EU um die Entwicklung eines Prüfungsrasters für digitale Inhalte. Dies sei ein notwendiger Schritt, so Chammon.

Dr. Ramona Lorenz (Wissenschaftliche Mitarbeiterin IGLU 2021 am Institut für Schulentwicklung, TU Dortmund) ordnete in der Diskussionsrunde auch nochmal die Resonanz der skandinavischen Länder auf die IGLU-Studie ein. Dort sei die Erwartung, dass der Einsatz von digitalen Medien die Folgen der Corona-Pandamie auf das Bildungswesen deutlich stärker auffangen könnte, sehr viel größer gewesen als in Ländern, die digital nicht so fortgeschritten seien. Diese Erwartung sei allerdings nicht im erhofften Maße erfüllt worden. Trotz digitaler Lernmittel habe es auch in den skandinavischen Ländern einen Rückgang in der Lesekompetenz gegeben. Die Digitalisierung allein habe also die Effekte der Isolation und des Distanzlernens nicht aufheben können. Lorenz wies darauf hin, dass Detailwissen fehle, um aus der Studie einen kausalen Zusammenhang zwischen Lesekompetenz und der Nutzung digitaler Geräte herstellen zu können. Dieser Zusammenhang werde daher oft fälschlicherweise in Diskussionen rund um die Studienergebnisse kolportiert.

Dr. Birgit Stöber (Nordeuropa-Expertin und Professorin für Kommunikationsmanagement an der BSP Business and Law School) ergänzte, dass die IGLU-Studienergebnisse zeigen würden, dass Kinder und Norwegen und in Dänemark am wenigsten Lust haben zu lesen. Das unterstreiche, dass kein Automatismus zwischen dem Einsatz digitaler Anwendungen und Spaß am Lernen bestehe, sondern dass es auf die pädagogische Einbindung ankomme. Darüber hinaus spiele in den Augen von Stöber neben den Methoden im Unterricht auch die ganz grundsätzliche Haltung einer Gesellschaft zum Lesen eine Rolle: Wird als Gesellschaft die Motivation zum Lesen gefördert?

Den Unterschied zwischen Motivation und Kompetenz griff Lorenz direkt auf. Laut IGLU-Studie sei die Lesemotivation bei Kindern in Deutschland recht hoch. Viele Initiativen in den Schulen würden jedoch darauf abzielen, die bereits hohe Motivation zu stärken, statt auf die noch nicht so hohe Lesekompetenz einzuzahlen. Auch der Einsatz digitaler Medien ziele oft eher darauf ab, die Motivation zum Lesen zu erhöhen. Dies erzeuge aber nicht automatisch eine höhere Lesekompetenz.

Panelist*innen AG Bildung Q3 2023

Auch wenn die fortschrittliche technologische Ausstattung und Offenheit der skandinavischen Länder gegenüber Deutschland vom Panel einstimmig unterstrichen wurden, machten die Panelist*innen ebenso deutlich, dass auch in Skandinavien noch viel Entwicklungspotenzial für eine qualitativ gute Lehre mit digitalen Angeboten bestehe. So sei durch die technologische Ausstattung während der Pandemie die Aufrechterhaltung der Kommunikation und der Zugang zu Lehrmaterialien in der Regel kein Problem gewesen. Es sei nicht wie in Deutschland der Kontakt zu Kindern verloren gegangen. Die Qualität des Unterrichts hingegen sei während der Corona-Pandemie auch in Skandinavien oft nicht herausragend gewesen, so Chammon.

Eine Gästin aus dem Publikum machte deutlich, dass neben der digitalen Ausstattung auch die größere Freiheit in der Gestaltung von Lernumgebungen und des Unterrichts ein entscheidender Vorteil in Skandinavien sei. Havinga, deren Kinder in Norwegen zur Schule gehen, stimmte zu und berichtete von den völlig anders gestalteten, kreativeren Lernumgebungen in Norwegen. Schulen hätten dort schon allein beim räumlichen Aufbau viel mehr Gestaltungsspielraum, während in Deutschland analog zum Datenschutz bei digitalen Anwendungen der Brandschutz bei der Gestaltung von analogen Lernräumen ein echtes Hindernis sei. Chammon wies darauf hin, dass sich das Verständnis der Aufgabe von Schule zwischen Deutschland und skandinavischen Ländern deutlich unterscheide:

In Deutschland liegt der Fokus auf der Wissensvermittlung und der Erbringung und Bewertung von Leistungen. In Dänemark wiederum werden regelmäßig alle Schüler*innen und Lehrkräfte zu ihrem persönlichen Wohlbefinden befragt. Die Frage, ob sich Lehrkräfte und Schüler*innen im Bildungssystem wohlfühlen, hat dort eine wichtige Bedeutung. Reflektiert man dies, stellt sich die Frage, welche Werte und Inhalte Schulen vermittelt sollten? Was ist eine zeitgemäße Aufgabe der Bildung? Sollten Themen wie Resilienz und Wohlbefinden auch im deutschen Bildungssystem eine Rolle spielen?
Jacob Chammon, Deutsche Telekom Stiftung

Abschließender Tenor der Panelist*innen war der dringende Appell, Bildungsdaten differenziert zu betrachten, sie richtig einzuordnen, Korrelation und Kausalität korrekt zu benennen und zu kommunizieren. Wichtigstes Ziel sollte sein, Bildungsmaßnahmen auf fundierten Erkenntnissen zu definieren und nicht als politisches Kapital zu nutzen, um mit polarisierenden Aussagen zu punkten. Im Vordergrund aller bildungspolitischen Maßnahmen sollte die angestrebte Wirkung dieser stehen: Schüler*innen auf ihre Zukunft vorzubereiten, um ihnen eine selbstbestimmte gesellschaftliche wie berufliche Teilhabe zu ermöglichen. In diesem Rahmen regte das Panel auch an, prinzipiell die Indikatoren für Bildungserfolg zu hinterfragen. Sind die Facetten, die in derzeitigen Bildungsstudien erhoben werden, noch zeitgemäß, oder brauchen wir nicht ein neues Verständnis davon, was gute Bildung im 21. Jahrhundert ausmacht?

Publikum der AG Bildung
Publikum der AG-Bildung

Schweden: Rolle rückwärts in der digitalen Bildung? 

Jannie Jeppesen, Geschäftsführerin der Swedish EdTech Industry und zweite Vorsitzende der European University Association, in einer Videokonferenz
Jannie Jeppesen, Geschäftsführerin der Swedish EdTech Industry und zweite Vorsitzende der European University Association

In Schweden wird das Thema digitale Bildung als politischer Spielball der neuen Regierung genutzt, so Jannie Jeppesen (Geschäftsführerin der Swedish EdTech Industry und zweite Vorsitzende der European University Association) zu Beginn ihres Statements. Die neue Regierung sei in ihre Amtszeit mit der Aussage gestartet, dass die Digitalisierung der Bildung in Schweden ein Experiment gewesen sei, welches es nun zu stoppen gelte. Dementsprechend gebe es in Schweden bereits rückläufige Reformen in Bezug auf die bisherige Digitalisierungsstrategie in der Bildungspolitik. Die Regierung habe beschlossen, den Einsatz von digitalen Anwendungen in der Vorschule und bei Kleinkindern einzuschränken. Außerdem solle in Schulen wieder vermehrt mit gedruckten Schulbüchern gelehrt werden. Die Darstellung, gedruckte Bücher seien von digitalen Anwendungen verdrängt worden, sei inkorrekt, so Jeppesen. Das Hauptproblem sei ein generell zu geringes Budget für Lernmaterialien, welches dazu führe, dass weder für gedruckte noch für digitale Materialien genug Geld zur Verfügung stehe. Im Vergleich zu den anderen Staaten in Nordeuropa stehe in den letzten Dekaden in Schweden nur halb so viel Budget für Lernmaterialien zur Verfügung. Von diesem geringen Budget werden 70 Prozent für gedruckte Materialien ausgegeben, von einer Verdrängung durch digitale Angebote könne also nicht die Rede sein, erklärte Jeppesen. 

Grund für die Entscheidung zur Überarbeitung der digitalen Bildungsstrategie seien solche und andere Fehleinschätzungen. So sei unterstellt worden, dass die Bildungsstrategie ohne ausreichende Einschätzung der Auswirkungen des Arbeitens mit digitalen Tools erstellt worden sei. Dies sei inkorrekt, da die Bildungsstrategie durchaus zahlreiche Forschungsergebnisse berücksichtige.  

Problematisch sei außerdem, dass Kritiker*innen Bildschirmzeit generell als schädlich einstuften: „Man kann soziale Medien, die mit süchtig machenden Algorithmen arbeiten, nicht mit digitalen Lernressourcen vergleichen.“ Eine weitere Fehleinschätzung sei auf Grundlage der Ergebnisse der IGLU-Studie erfolgt, welche die Lesekompetenz bei Viertklässler*innen untersuchte. Diese sei insgesamt weltweit gesunken, auch in Schweden. In Schweden sei die prozentuale Verschlechterung der Ergebnisse jedoch geringer als in vergleichbaren Ländern gewesen. Dennoch sei die Verschlechterung in den Zusammenhang mit der Nutzung digitaler Tools gebracht worden. Stattdessen müsse man die Ergebnisse jedoch differenziert analysieren, forderte die Vorsitzende der schwedischen EdTech Industrie. Tatsächlich entstehe die größer werdende Kluft der Leistungen aufgrund von sozialen Ungleichheiten. Schüler*innen mit anderen Muttersprachen oder aus ökonomisch schwächeren Haushalten würden zunehmend deutlich schlechter in Lernerhebungen abschneiden. Auch die soziale Isolation während der Corona-Pandemie habe einen großen Einfluss auf die schwedischen Schüler*innen gehabt: „Die Argumentation des Bildungsministeriums lautet, dass zu viel Bildschirmzeit für die schlechteren Ergebnisse verantwortlich ist. Doch die Ergebnisse der IGLU-Studie sagen dies nicht aus. Das muss in der Debatte klar herausgearbeitet werden. Debatten sind wichtig. Wir brauchen kritische Debatten im Zeitalter der digitalen Transformation. Aber sie muss differenziert und auf einer korrekten faktischen Basis geführt werden“, forderte Jeppesen. Es sei deshalb entscheidend, die Gründe für die Bildungsherausforderungen in Schweden genau zu analysieren, insbesondere in Hinblick auf die bevorstehenden PISA-Ergebnisse.

Digitalkompetenzen sind Teil einer holistischen Bildung. Diese Kompetenzen stehen nicht in Konkurrenz zu Basiskompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen. Gedruckte Schulbücher stehen nicht in Konkurrenz zu digitalen Lernmaterialien, sondern wir brauchen beides! Es ist jetzt wichtig, dass alle Stakeholder*innen – Wissenschaftler*innen, Pädagog*innen und andere Bildungsakteur*innen – korrekt kommunizieren. Jede*r muss jetzt Verantwortung für eine ausgewogen geführte Debatte übernehmen!
Jannie Jeppesen, Swedish EdTech Industry, European University Association

Finnland: Selbstgesteuertes Lernen und Technologieintegration  

In Finnland habe man ebenfalls Bedenken bezüglich des aktuellen Bildungssystems. Diese seien jedoch nicht nur auf die digitalen Anwendungen in der Bildung oder auf die hohen Bildschirmzeiten der Schüler*innen zurückzuführen, so Timo Väliharju (Geschäftsführer der EduCloud Alliance) und Heini Karppinen (Geschäftsführer Edtech Finland und HundrED). Laut den Beiden bestehe außerdem bereits ein Lösungsansatz: das selbstgesteuerte Lernen. Die Förderung dieser Fähigkeit könne dazu beitragen, Lehrkräften mehr Kapazitäten zur Verfügung zu stellen, um auf die individuellen Bedürfnisse der Schüler*innen einzugehen. Zusätzlich sei es jedoch unerlässlich, Lehrkräfte in der Nutzung digitaler Werkzeuge zu schulen und eine umfassende Bildungsstrategie zu entwickeln, die auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Schüler*innen einginge.  

Die Integration von Technologie sollte als Teil dieser Gesamtstrategie betrachtet werden, um die Bildung gerechter und effizienter zu gestalten. Ein weiterer Diskussionspunkt sei die mögliche Einführung von Sonderschulklassen, um individuellere Unterstützung bieten zu können. Dies erzeuge aktuell jedoch Probleme beim Thema Inklusion und hinsichtlich Verfügbarkeit von Ressourcen. 

Norwegen: Partnerschaften zwischen Bildungssektor und Industrie

Prof. Dr. Natalia Kucirkova, University of Stavanger, in einer Videokonferenz
Prof. Dr. Natalia Kucirkova, University of Stavanger

Prof. Dr. Natalia Kucirkova (University of Stavanger, Norwegen) begann ihren Impuls mit einer Beschreibung des Ist-Zustands: Die wissenschaftlichen Erkenntnisse bezüglich der Auswirkungen von digitalen Technologien auf Kinder seien sehr heterogen. Man könne die Auswirkungen nicht mit „gut“ oder „schlecht“ beschreiben. Die Frage müsse deshalb lauten: Welche digitalen Technologien seien für wen und wann geeignet?​ Dieses detaillierte Wissen fehle momentan in Norwegen, aber auch international, so Kucirkova. Deshalb entstünden einseitige Debatten über die Bildschirmzeit von Kindern und die zukünftige Rolle von EdTech. Oft werde die Debatte mit emotionalen, polarisierenden Aussagen geführt, die nicht auf wissenschaftlichen Erhebungen basieren, sondern auf einseitigen persönlichen Erfahrungsberichten.

Zurzeit gebe es viele Spannungen in der Politik und dem Bildungssektor, wenn über den Einsatz digitaler Tools gesprochen werde. Eine Herausforderung sei, dass die Governance von EdTech bisher äußerst fragmentiert sei. Es bestehe kein spezialisiertes Zentrum für Edtech-Forschung. Dies zu ändern und Strukturen zu konsolidieren, könne dazu beitragen, die Narrative und die Implementierung zu verbessern. Momentan basiere die EdTech Forschung auf dem Engagement einzelner Forscher*innen und Schulen. Es bestehe in Norwegen eine große Diskrepanz zwischen Gemeinden mit Schulen mit hoher Digitalkompetenz und Gemeinden, deren Schulen eine sehr geringe Digitalkompetenz haben. Kucirkova betonte: „Technologie ist am besten, wenn sie personalisiert ist und ein individuelles Lernerlebnis bietet. Das können wir derzeit noch nicht umsetzen, da uns die Evidenz fehlt.“ Es bedürfe der koordinierten Zusammenarbeit der Wissenschaft, sodass die positiven Auswirkungen, aber auch die Herausforderungen von EdTech in der Bildung fundiert erhoben und bewertet werden können.

Nach Ansicht von Kucirkova stehen alle Länder der EU vor ähnlichen Herausforderungen in der Bildungspolitik:

Wir alle erleben gerade die Probleme, wenn die Infrastruktur fehlt, die alle relevanten Interessengruppen zusammenführt. Es braucht effektive Partnerschaftsmodelle aller Stakeholder*innen vom Bildungssektor bis hin zur Wirtschaft, um das Schwarz-Weiß-Denken hinsichtlich des Einsatzes von Technologie zu überwinden und diese sinnvoll für eine zeitgemäße Bildung zu nutzen.
Prof. Dr. Natalia Kucirkova, University of Stavanger

Die Niederlande: Bildungsziele vor Technologieauswahl

Ewoud de  Kok, Gründer und Geschäftsführer des niederländischen EdTechs Feedback Fruits, in einer Videokonferenz
Ewoud de  Kok, Gründer und Geschäftsführer des niederländischen EdTechs Feedback Fruits

Ewoud de  Kok (Gründer und Geschäftsführer des niederländischen EdTechs Feedback Fruits) teilte einige Überlegung zum Einsatz von digitalen Technologien im Bildungssektor im niederländischen Kontext. Zunächst sei es vor allem wichtig, die Pädagogik in den Fokus zu stellen, denn die digitalen Technologien sollten lediglich unterstützend eingesetzt werden, so de Kok. Er bekräftigt Havingas Aussage, dass zwischen EdTech und technologischen Anwendungen wie Zoom unterschieden werden müsse. „Digitale Anwendungen haben die Bildung während der Corona-Krise gerettet, aber sie waren nie explizit für den Einsatz im Bildungssektor gedacht.“

Ziel des Einsatzes von Technologie sollte es sein, mehr Raum für qualitative menschliche Interaktion zu schaffen beispielsweise durch die Übernahme von repetitiven Aufgaben der Lehrkräfte. Zwischen einem*r Professor*in und 100 Studierenden in einem Vorlesungssaal bestünde zum Beispiel kaum qualitativ hochwertige menschliche Interaktion. Teambasiertes Lernen in kleineren Gruppen würde die Qualität der Interaktion erhöhen, sei aber ohne technologische Hilfe deutlich komplizierter umsetzbar. Technologie könne in solchen Situationen effektiv helfen. De Kok definierte außerdem den seiner Meinung nach im Raum stehenden „Elefanten“, wenn es um den Einsatz von Technologie im Bildungsbereich gehe: „Wir reden über Gemeinwohl. Doch durch den Einsatz von EdTech Angeboten wird plötzlich auch der Aspekt des Shareholder Values zum Thema. Es wird hinterfragt, ob es beim Einsatz von Technologien um die Steigerung des Gemeinwohls oder den Gewinn einzelner Shareholder geht. Wir leben nicht in einer kommunistischen Gesellschaft. Shareholder Values haben eine Berechtigung. Entscheidend sollte sein, dass das Gemeinwohl immer über dem Shareholder Value steht. Shareholder Value darf in diesem Falle entstehen, wenn das Gemeinwohl verbessert wird.“

Technologie habe während der Corona-Pandemie das Bildungssystem gerettet, darin ist de Kok sehr klar. Dabei habe es sich jedoch primär nicht um EdTech, sondern hauptsächlich um Konferenztechnologien gehandelt, die für den Bildungsbereich genutzt worden seien. Dies sei zu diesem Zeitpunkt hilfreich gewesen:

Während der Pandemie ging es nicht primär darum, die eigene Pädagogik zu verbessern, sondern darum, das System am Laufen zu halten. Jetzt müssen wir wieder die Pädagogik in den Fokus rücken und überlegen, wie wir diese, mit Hilfe von Technologien voranbringen können. EdTech sind Tools, die die Pädagogik stärken und die Lernerfolge von Schüler*innen fördern. Wir sollten immer zuerst fragen: Wie können wir unsere Bildungsangebote verbessern? Erst dann sollten wir überlegen, wie Technologie uns dabei unterstützen kann, diese Verbesserung umzusetzen.
Ewoud de Kok, Feedback Fruits

Ansprechpartnerin in der Geschäftsstelle

Porträt von Stefanie Kaste

Stefanie Kaste, Stellv. Geschäftsführerin (sie/ihr)