AG-Blog | Digitalisierung im Gesundheitssektor: ePA, eHealth und Co. aus der Sicht von Verwaltung, Zivilgesellschaft und Krankenkassen
Was sind die Stolpersteine auf dem Weg zu einem digitalen, innovativen und inklusiven Gesundheitssystem und wie können wir sie aus dem Weg räumen? Die AG Innovativer Staat hat sich in ihrer letzten Sitzung dieser Frage angenommen und anhand von Praxisbeispielen aus Verwaltung, Zivilgesellschaft und Krankenkassen die digitale Zukunft unseres Gesundheitssystems diskutiert.
Berlin. Digitalisierung im Gesundheitssektor hält viele Versprechen bereit, gleichzeitig sind die Hürden für schnelle und tiefgreifende digitale Revolutionen hier besonders hoch. Während Online-Terminvereinbarung und virtuelle Ärzt*innen-Besuche immer mehr zur Regel werden, hängen große Vorhaben wie die elektronische Patientenakte (ePA), der elektronische Datenaustausch zwischen allen Akteur*innen des Gesundheitswesens oder eine Forschungsdateninfrastruktur für Gesundheitsdaten weiterhin in der Luft – nicht zuletzt wegen datenschutzrechtlichen Unklarheiten.
Die AG Innovativer Staat hat sich daher bei ihrem letzten Treffen in Berlin mit Fragen zu den Themen E-Health und Digitalisierung im Gesundheitssektor auseinandergesetzt. „Wir wollen heute Grundlagen schaffen und feststellen, wo sich Verwaltung, Wirtschaft, Gesundheitsdienstleister, zivilgesellschaftliche Akteur*innen und Patient*innen einig sind, wo Konfliktlinien verlaufen und wie wir diese überwinden können.“ Mit dieser Zielsetzung begrüße AG-Co-Leiterin Cornelia Gottbehüt die AG-Mitglieder in den Räumlichkeiten von EY in Berlin.
Public Health als gemeinwohlorientierte Vernetzungsaufgabe
Wie schaffen wir sinnige digitale Vernetzung im Gesundheitswesen? Mit dieser Frage eröffnete Bianca Kastl den ersten Impuls des Tages. Sie ist Vorsitzende des Innovationsverbund Öffentliche Gesundheit e. V. (InÖG) und arbeitet außerdem in einer öffentlichen Verwaltung, wo sie Software-Netzwerke am Schnittpunkt von öffentlicher Verwaltung und Gesundheitswesen baut. Der InÖG ist ein ehrenamtlicher und gemeinwohlorientierter Inkubator für Civic Tech, der aus einem Zusammenschluss unterschiedlicher Projekte des WirVsVirus-Hackathons entstanden ist. Er arbeitet mit ähnlichem Verständnis wie das Technische Hilfswerk oder das Deutsche Rote Kreuz: Die aus dem InÖG heraus entwickelten Software-Produkte sind Open Source und werden der öffentlichen Hand unentgeltlich bereitgestellt.
Kastl berichtete der AG aus ihrer Arbeit mit dem konkreten UseCase „Kontaktnachverfolgung in der Pandemie“. Zunächst habe sie zu Beginn der Corona-Pandemie auf kommunaler Ebene mit ihrem Team erfolgreich ein System zur Kontaktpersonen-Nachverfolgung etabliert:
Agiles, interdisziplinäres Arbeiten sei hier ein weiteres Kernelement für den Erfolg gewesen. Der InÖG habe dann im weiteren Verlauf der Pandemie mit IRIS Connect einen Gateway-Ansatz entwickelt und bereitgestellt, der überregional 110 Gesundheitsämter über 7 Fachverfahren mit 70 Apps vernetzt habe. Der Datenschutz stelle dabei in ihren Augen ausdrücklich keinen Hinderungsgrund dar, auch wenn das in der Öffentlichkeit oft so dargestellt werde:
Und was können wir aus diesem Beispiel für die digitale Vernetzung im Gesundheitswesen lernen? Kastl sieht vor allem einige Voraussetzungen, die erfüllt werden müssen, damit solche Projekte wie ihres möglich werden. Es brauche Zusammenarbeit auf Augenhöhe und einen offenen Entwicklungsprozess. Gute Technologiepartner würden natürlich auch nicht schaden. Silodenken und Verantwortungsdiffusion im Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) müssten überwunden werden, und Basiskomponenten wie Identitäten/Zertifikate, Vernetzungsmöglichkeiten und Referenzimplementierungen gemeinwohlorientiert zur Verfügung stehen. Hier sieht Kastl auch die besondere Rolle der Zivilgesellschaft: Diese agiere außerhalb der üblichen Silos und könne sich somit für ganzheitliche Lösungen einsetzen. Um einen positiven Wandel herbeizuführen, sei Offenheit, Transparenz und eine bessere Kommunikation der verschiedenen Akteur*innen untereinander auf jeden Fall unerlässlich.
Der „Pakt für den Öffentlichen Gesundheitsdienst“ als Anschub für die ÖGD-Digitalisierung
Einen direkten Einblick in die Praxis des ÖGD hatten auch Stefan Domanske, Beigeordneter für Digitalisierung beim Niedersächsischen Landkreistag, und Janna Strömer, Senior Consultant bei Sopra Steria, der Arbeitsgruppe mitgebracht: Sie zeigten auf, wie aktuell in Niedersachsen landesseitig und kommunal der Weg zu digitalen Strukturen, Standards und Schnittstellen im ÖGD beschritten werde. Dabei sei der Status Quo vor allem dadurch geprägt, dass sich im Prinzip jedes Gesundheitsamt selbst auf den Weg zur Digitalisierung gemacht habe und nur wenig Austausch stattgefunden habe. Einige haben sehr früh angefangen und hätten daher mittlerweile schon etliche Fachverfahren digitalisiert, andere hätten vor Corona noch ganz am Anfang gestanden und seien von den digitalen Herausforderungen der Pandemie überrollt worden.
Trotzdem habe die Pandemie allein nicht wirklich zur Digitalisierung des Gesundheitssystems beigetragen, so Domanske:
Mit „Jetzt“ mein Domanske das Inkrafttreten des „Pakts für den Öffentlichen Gesundheitsdienst“ zwischen den Gesundheitsminister*innen von Bund und Ländern. Bis 2026 werden deutschlandweit 4 Milliarden Euro für die Modernisierung des ÖGD bereitgestellt. Ein wichtiger Kern des Pakts ist für Domanske und Strömer, dass die Wirkungsmessung der geförderten Maßnahmen Fördervoraussetzung ist. Außerdem sei ein Reifegradmodell eingeführt worden, das mittlerweile von Beteiligten aller Seiten begrüßt werde, weil es eine echte Vergleichbarkeit ermögliche.
Niedersachsen unterstütze den landesinternen Transformationsprozess des Pakts mit 3 großen Themengebieten, erläutert Strömer:
- Übergreifendes Digitalisierungskonzept für den ÖGD: Gemeinsam entwickelte strategische Festsetzungen, Leitsätze der Digitalisierung, Strukturen eines Digitalisierungsmanagements sowie Maßnahmen im Rahmen der Digitalisierungsförderung bilden den Rahmen für eine kohärente Weiterentwicklung des ÖGD in Niedersachsen.
- Landesmaßnahmen, z. B. ein Dashboard zur Darstellung epidemiologischer Indikatoren, die Digitalisierung von Impfakten oder ein Clouddienst für den Austausch personenbezogener Daten
- Aufbau und die Aufrechterhaltung von kommunenübergreifenden Netzwerken über die Kommunikationsplattform Agora des RKI, Kommunikationsformate und Newsletter.
Auch wenn nicht alle Kommunen bisher Gelder über den Pakt abgerufen haben, würden sich Erfolge zeigen, so Domanske, und zwar vor allem in Sachen Mindset:
Man komme dem Ziel, ein echter Gesundheitsverbund zu sein, in kleinen Schritten näher und arbeite in einer neuen Unterarbeitsgruppe nun verstärkt am Thema Interoperabilität. Bei einem Thema zeigte sich Strömer jedoch nachdenklich: „Der Pakt wird nicht die Lösung für das Problem der Verantwortungsdiffusion im ÖGD sein.“
Blick in die Werkstatt: eHealth und Krankenkassen
Ein weiterer wichtiger Akteur bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens sind die Krankenkassen. Sie haben ein Interesse daran, die Qualität und Effizienz der Gesundheitsversorgung langfristig zu verbessern, verfügen außerdem über eine etablierte Infrastruktur zur Kommunikation mit Patient*innen, die für die Einführung und Erklärung digitaler Gesundheitslösungen genutzt werden kann, und sind eng in regulatorische Prozesse involviert.
Kornell Adolph, Geschäftsführer des Programms „AOK Mein Leben“ und Bereichsleiter Innovation und Entwicklung bei der AOK PLUS, berichtete der AG über die Herausforderungen, denen sich seine Krankenkasse im Rahmen der Digitalisierung des Gesundheitswesens stellen muss. Die Kund*innenzentrierung sei DNA und Daseinszweck der AOK. Mit maßgeschneiderten Leistungen könne man sich die Loyalität der Kund*innen sichern. Mit Digitalisierung zum Beispiel bei der Auswertung von Gesundheitsdaten könne man noch bessere, individualisierte Leistungen entwickeln und anbieten. Auf eins müsse man aber besonders Acht geben:
Die Entwicklung von Gesundheitskompetenz bei den Menschen müsse daher unbedingt mit der Entwicklung von digitalen Kompetenzen zusammen gedacht werden. Dabei sei es egal, ob es um Patient*innen oder um die eigenen Mitarbeitenden der Krankenkassen gehe. Denn auch letztere müssten auf dem Weg zum digitalen Gesundheitssystem mitgenommen werden. Bisher sei die Logik der Kund*innenreise und die Logik dessen, was im Hintergrund bei der Krankenkasse passiere, relativ parallel verlaufen und dadurch in alle Richtungen leicht zu vermitteln gewesen. Das ändere sich mit der Digitalisierung:
Wie können Krankenkassen es also schaffen, eine dauerhaft veränderungsfähige und kundenzentrierte Organisation zu schaffen, die sich den digitalen Veränderungen und Anforderungen des Gesundheitsmarktes aus sich selbst heraus anpassen kann? Sie muss Kundenzentrierung, Geschäftsmodellwandel und Veränderungsfähigkeit aufweisen, so zumindest die Schlussfolgerungen von Adolph.
Digitalisierung in Verwaltung und Gesundheitswesen kann klappen …
… auch wenn es technisch kompliziert ist, Datenschutz eingehalten werden muss und keine riesigen Budgets vorliegen. Das haben die Beispiele der AG Innovativer Staat gezeigt. Trotzdem ist sie kein Selbstläufer, im Gegenteil. Gerade mit der Verantwortungsdiffusion und dem Verharren in alten Prozessen und Denkmustern liegen große Hürden auf dem Weg zu einem digitalen Gesundheitswesen, die nicht zu leicht zu überwinden sind. Oder wie es AG-Co-Leiter Dr. Pablo Mentzinis zum Abschluss sagte: „Ohne Offenheit zwischen den verschiedenen Akteur*innen wird es nicht funktionieren. Wir brauchen einen gemeinsamen digitalen Lernraum – auch im Gesundheitswesen.“