AG-Blog | Digitalpakt, Startchancen-Programm und Bildungslücke – Welche Rolle kann und will der Bund spielen?
Jüngste empirische Ergebnisse zeichnen ein düsteres Bild der Verhältnisse an deutschen Schulen: Ein Viertel der Schüler*innen können am Ende ihrer Grundschulzeit nicht richtig lesen, zeigte die im Mai 2023 veröffentlichte 5. IGLU-Studie. Die AG Bildung stellte bei ihrer Sitzung im ECDF diese Ergebnisse in ihren Kontext, analysierte vorangegangene Fehler und zeigte Wege auf, wie der Bund in Zukunft Schulen, Lehrpersonal und Schüler*innen unterstützen könnte.
Berlin. Die im dreijährlichen Turnus durchgeführten PISA-Studien sorgten in den letzten 20 Jahren regelmäßig für Aufsehen, schnitten deutsche Schüler*innen im Vergleich mit anderen OECD-Ländern doch häufig schlechter ab als erwartet. Tatsächlich gibt es viele weitere empirische Erhebungen, die die Lese-, Rechtschreib- und Rechenkompetenzen von Schüler*innen in verschiedenen Altersstufen und Regionen ermitteln und vergleichen, so zuletzt geschehen in der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU).
Befunde der IGLU-Studie
Deren neuste Ergebnisse wurden im Mai 2023 vorgestellt. Prof. Dr. Nele McElvany, Professorin für empirische Bildungsforschung an der Technischen Universität Dortmund und wissenschaftliche Leiterin der Studie, stellte die Ergebnisse der AG Bildung der Initiative D21 vor und ordnete die Kernaussagen der Erhebung ein.
Die IGLU-Studie findet in einem fünfjährigen Turnus statt; die Ausgangserhebung wurde 2001 durchgeführt. In 65 Staaten und Regionen werden eine Vielzahl von Indikatoren erfasst, um die Lesekompetenzen von Grundschüler*innen zu evaluieren. Hierzu gehören die Lesefähigkeiten an sich, aber auch familiäre Merkmale und die Unterrichtsqualität. Mit der aktuellen Studie wurden erstmalig digitale empirische Werkzeuge eingeführt, so wurde beispielsweise unter dem neuen Namen ePIRLS (Progress in International Reading Literacy Study) das Lesen von Webseiten simuliert.
- Die Lesekompetenz deutscher Schüler*innen bewegt sich im internationalen Mittelfeld. Grundschulkinder in England, Polen, Bulgarien, Italien und in den skandinavischen Ländern sind denen in Deutschland im Mittel deutlich voraus – eine Verschlechterung seit der Ausgangserhebung.
- Die Streuung der Leistung ist sehr hoch, 25 Prozent der Kinder sind schwache oder sehr schwache Leser*innen (2001: 17 Prozent), während 39 Prozent sehr gut lesen (2001: 47 Prozent).
- Erzählende Texte werden außerdem besser verstanden als informierende, was laut Prof. Dr. McElvany Probleme im Kontext der schulischen Wissensvermittlung darstellt.
- Kinder in Deutschland haben dennoch eine im internationalen Vergleich hohe Lesemotivation und lesen im Mittel viel außerhalb der Schule. Gleichzeitig geben 22 Prozent der Kinder an, nicht gerne im privaten Kontext zu lesen. Die Lesezeit im Unterricht (141 Min.) liegt zudem weit unter dem Mittelwert in EU (194 Min.) und OECD (205 Min.).
- Die Untersuchung familiärer Merkmale zeigte, dass sich soziale Disparitäten seit 2001 in Deutschland nicht reduziert haben. Kompetenzunterschiede korrelieren in Deutschland außerdem stärker als in anderen Ländern mit der Sprache, die bei den Kindern zuhause gesprochen wird. Gymnasialempfehlungen werden 2,5-mal häufiger für Kinder aus bildungsnahen Haushalten ausgesprochen, unverändert zu 2001.
- Klassenlektüren sind im Schnitt 20 Jahre alt. Die Bereitstellung digitaler Medien, deren Nutzung, und das Verhältnis Kind-Computer sind jeweils schlechter als im EU- und OECD-Vergleich.
Studienergebnisse wenig überraschend
Im Anschluss an die wissenschaftliche Einordnung der Studie durch Prof. Dr. McElvany diskutierten sie und Prof. Dr. Birgit Eickelmann von der Universität Paderborn als Vertreterinnen der Wissenschaft darüber mit drei Bildungspolitikerinnen. Ria Schröder MdB, bildungspolitische Sprecherin der FDP, Nina Stahr MdB, bildungspolitische Sprecherin von Bündnis 90/Die Grünen, und Dr. Carolin Wagner MdB, stellvertretende Sprecherin der AG Bildung und Forschung der SPD, teilten in ihren Eingangsstatements ihr Bedauern über die enttäuschenden Studienergebnisse mit, zeigten sich aber gleichzeitig wenig überrascht von der unzufriedenstellenden Lage.
Schröder machte sich stark für die Anerkennung der Wichtigkeit von digitalen Kompetenzen:
Gleichzeitig verwies sie auf die prekären Lebenssituationen, in denen sich fast ein Drittel der Kinder befinde – „ohne eigenes Zimmer, ohne Bücher und ohne Frühstück“. Politisch solle nun mit dem Startchancenprogramm des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) gezielter gegengesteuert werden.
Stahr forderte eine Neuberechnung des kindlichen Existenzminimums und sah den Zusammenhang von sozioökonomischem Hintergrund und Bildungserfolg in der neuen Studie abermals bestätigt. Sie stellte außerdem klar, dass migrantische Biografien nicht über Lernerfolge entscheiden dürfen. Wagner forderte ein frühes Eingreifen bereits in Kindertagesstätten:
Aber wie können nun konkrete Lösungsvorschläge aus der Politik aussehen? Wie kann ein leistungsfähigeres Bildungssystem finanziert werden und inwieweit verhindern föderale Strukturen den Lernerfolg deutscher Grundschulkinder? Die Abgeordneten bestätigten, dass die Situation zwischen Bund und Ländern herausfordernd sei. Sie sähen aber wenig Möglichkeiten, die grundgesetzliche Regelungen neu zu fassen. Auch über die Aufnahme weiterer Schulden zur Finanzierung einer Bildungsoffensive war man sich uneinig. Zudem sei die Finanzierung nicht das Kernproblem, vielmehr seien falsche Prioritäten gesetzt worden, so Schröder. Fehler in der Umsetzung und fehlende Möglichkeiten des Bundes, die Mittelausschüttung an konkrete Projekte zu knüpfen und deren Wirkung zu prüfen, würden die schwierige Lage ergänzen.
Empirie und Diagnostik als wichtigste Mittel für bessere Bildung
Prof. Dr. Eickelmann betonte die Notwendigkeit einer datenbasierten Argumentation. Verschiedene Studienergebnisse würden bestätigen, dass mehr Ressourcen für individuelle Unterstützung seien. Es gelte jetzt, genau das digital und ressourcenschonend zu organisieren:
Studienleiterin Prof. Dr. McElvany stimmte ihrer Kollegin zu und plädierte für mehr Bildungsgerechtigkeit an Grundschulen, standardisierte Diagnostik und gezielte Förderung.
Auch aus den Reihen der Teilnehmenden der AG wurde für gezieltere diagnostische Methoden sowie einen genaueren Blick auf einzelne Lehrteams und Schulen sowie deren Erfolgsrezepte geworben. Mit Blick auf die politischen Vertreterinnen auf dem Panel wurde angeregt, ein gesetzlich verankertes Recht auf Bildung zu prüfen. Das Argument der hemmenden Wirkung des Föderalismus wurde mit Verweis auf die ebenfalls föderal organisierte Schweiz und die Bildungsstaatsverträge mit den Kantonen relativiert.
Eindrücklich wurde den D21-Mitgliedern, Gästen und Speakerinnen außerdem von einer Berliner Schulleiterin dargelegt, wie desolat die die Ausstattung vieler Schulen sei, und das nicht nur digital: „Wir kaufen unsere Lehrer*innentische aus eigener Tasche auf Kleinanzeigen.“ Zuvor bereitgestellte SIM-Karten für die Schul-Tablets der Kinder würden von Bildungsbehörden nicht weiter finanziert, sodass digitales Lernen für viele Schüler*innen ohne heimischen WLAN-Anschluss unmöglich gemacht werde. Lange Anträge, Bearbeitungszeiten und Ausstattung am Bedarf vorbei würden das Problem zusätzlich verschärfen.
Fehlinterpretationen können digitale Rückständigkeit des deutschen Bildungssystems verstärken
Stefanie Kaste, stellvertretende Geschäftsführerin der Initiative D21, und Sandy Jahn, Referentin für Strategic Insights & Analytics, bemängelten außerdem die mediale Aufmerksamkeit für Fehlinterpretationen der IGLU-Studie. Fälschlicherweise werde eine Kausalität zwischen digitalen Medien und fehlender Lesekompetenz hergestellt; in Wahrheit seien mangelnde Digitalkompetenzen, fehlende Übermittlung digitaler Lesestrategien und zu wenige Fortbildungen für Lehrer*innen für die Ergebnisse verantwortlich. Prof. Dr. Eickelmann bekräftigte diesen Punkt und brachte eine Vielzahl weiterer möglicher Erklärungen für den auf den ersten Blick negativen Zusammenhang zwischen digitalen Medien und Lesekompetenz an:
Die Ländervereinbarung aus dem Jahr 2020 beinhalte bereits das Lernen mit digitalen Medien in Grundschulen. Deren Auswirkungen werden sich allerdings erst in der nächsten Studie abbilden lassen. Bis dahin fünf Schüler*innengenerationen zu vernachlässigen, sei natürlich keine Option: „Wir müssen jetzt handeln!“, war der Tenor des Panels.
Die Politikerinnen dankten den Wissenschaftlerinnen für ihre wichtige Arbeit und versprachen, sich im Detail mit den Forschungsergebnissen auseinanderzusetzen, um die richtigen Schlüsse ziehen und Fehlinterpretationen vermeiden zu können. „Das Parlament wird jünger und weiblicher“, merkte Prof. Dr. Eickelmann an; das sei ein gutes Zeichen für die deutsche Bildungspolitik.