AG-Blog | Föderale Revolution – die „Dresdner Forderungen“
Einige Kommunen wünschen sich eine tiefgreifende Neuausrichtung der Digitalisierung der kommunalen Verwaltung. Wir diskutierten anhand der „Dresdner Forderungen“ mit Verwaltungsexpert*innen die zukünftige Verteilung von Verwaltungsaufgaben im föderalen System.
In den vergangenen Monaten wurde in einigen Städten die Forderung nach zentralen Lösung bei der Digitalisierung lauter. So stellten im März 2021 die Städte Leipzig, Freiburg, München, Köln und Essen dem IT-Planungsrat ihre Forderungen vor – als „Dresdner Forderungen“ prägen sie seitdem das Ringen um die digitale Transformation der Kommunen. „Service am Bürger und an der Bürgerin, nicht am Server“, so lautet das Motto. Die Kommunen wollen sich stärker auf ihre Kernbereiche fokussieren können, wie z. B. die digitale Daseinsvorsorge, Smart City und lokale digitale Verwaltungsangebote (wie Baugenehmigungen). Im Mai wurden die Forderungen vom Deutschen Städtetag formell adaptiert.
Die Dresdner Forderungen: Perspektiven über das OZG hinaus
Die AG Innovativer Staat konnte zwei der Initiator*innen der „Dresdner Forderungen“ dazu gewinnen, die Forderungen und die Gedanken dahinter auf der AG-Sitzung am 8. Dezember 2021 genauer vorzustellen. Dr. Hanna Sommer, Referentin beim Deutschen Städtetag, und Dr. Christian Aegerter, Hauptamtsleiter der Stadt Leipzig, vertraten die Perspektive der Kommunen und präsentierten den Plan einer kleinen „föderalen Revolution“.
Die komplexe Verwaltungsdigitalisierung fresse die knappen Digitalressourcen der Kommunen auf, so beschrieb Sommer die Ausgangssituation, aus der heraus die Forderungen entstanden sind. Der sich zuspitzende Personal- und Fachkräftemangel ergebe zusammen mit dem OZG-Umsetzungsdruck eine Lage, in der die Kommunen ihren ureigenen Aufgaben in den Bereichen Daseinsvorsorge, Bildung, Sport, Kultur und Wirtschaft nicht mehr nachkommen könnten:
Gleichzeitig sei es aufgrund der technischen Möglichkeiten heute nicht mehr nötig, dass die Kommunen zahlreiche Aufgaben „auf Weisung“ des Bundes oder der Länder erfüllen – die Ortsnähe spiele im Fall von rein digital erbrachten Leistungen keine Rolle mehr.
Vor dem Hintergrund dieser Überlastung haben die Kommunen ein Zielbild erarbeitet: die „Dresdner Forderungen“. Diese sind in ihrer aktuellen Form recht abstrakt formuliert – auch weil die Kommunen sie als einen Anlass sehen, um mit Bund und Ländern ins Gespräch zu kommen und sie auf Augenhöhe weiter zu diskutieren.
Die Forderungen der Kommunen mit ihren Service- und Technikdimensionen lauten:
- Verringerung der Komplexität in den Verantwortlichkeiten: Neue Wege der Zusammenarbeit und der Aufgabenverteilung zwischen Kommunen, Ländern und Bund zur ebenenübergreifenden Modernisierung des Staates sollen beschritten werden. Dazu gehört auch die Rückgabe von digitalisierbaren Pflichtaufgaben an die Herausgeberebene.
- Stärkung der Digitalen Daseinsvorsorge ermöglichen: Die Kommune wollen sich wieder stärker ihren Kernkompetenzen widmen.
- Zentrale IT-Verfahren und Prozesse für zentrale Aufgaben: Kommunen sollen beispielsweise durch zentrale Ausschreibungen von Fachverfahren durch den Bund bei der Verwaltungsdigitalisierung unterstützt werden – im Rahmen eines One-Stop-Shop-Verfahrens könnten IT-Prozesse zentral bereitgestellt werden.
- OZG als Treiber für durchgängige Verwaltungsdigitalisierung nutzen: Eine durchgängige, fallabschließende digitale Bearbeitung muss das Ziel sein.
- Nutzer*innen weiter in den Mittelpunkt stellen: Es braucht einen zentralen Support für Bürger*innen, Unternehmen und auch die Verwaltungsmitarbeitenden.
Repliken
Die „Dresdner Forderungen“ hinterfragen die bisherige Organisation des digitalen Staates und machen ein Angebot, wie man den digitalen Staat im modernen Zeitalter der Digitalisierung „anders“ und „besser“ gestalten könnte. Katrin Suder hatte bereits auf dem GovTalk der Initiative D21 einen ähnlichen Gedanken geäußert und den Vergleich gezogen, dass auch andere Systeme, beispielweise in der Wirtschaft, sich ständig anpassen, um den sich ändernden Herausforderungen zu begegnen. Von daher erscheint dieser Prozess auch beim Staat als ein mehr als zeitgemäßer Gedanke. Doch diese Veränderungen entstehen nicht aus dem System heraus, sondern durch Menschen, die sie unabhängig denken. In der Arbeitsgruppe wurden daher weitere Perspektiven aufgezeigt.
Arne Schneider, Haushaltsdirektor der Finanzbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg, argumentierte vor dem Hintergrund der Erfahrungen im Stadtstaat. In seinen Augen würden die in den „Dresdner Forderungen“ vorgeschlagenen Wege zur Komplexitätsreduktion nicht funktionieren; die aktuelle Komplexität wahrzunehmen und mit ihr umzugehen, sei die bessere Herangehensweise. Schneider plädierte für ein Factory-Modell des Bürgerservice – mit zentralen Backoffices als Service Factorys und dem Front Office in den Kommunen bei den Bürger*innen. Dafür müssten aber keine Aufgaben von den Kommunen an Bund oder Länder zurückgegeben werden – es reiche, den Prozess vernünftig und medienbruchfrei zu digitalisieren.
Dass die „Dresdner Forderungen“ dazu führen, dass in Zusammenhängen wie dem heutigen über die „Geschäftsmodelle“ der Verwaltung nachgedacht werden, sieht Ernst Bürger, Abteilungsleiter für Digitale Verwaltung und Steuerung des OZG im Bundesministerium des Innern, als einen der wichtigsten Punkte an: „Es ist klar: Wir müssen Organisation und Abwicklung unserer Leistungen analysieren und verbessern.“ Dabei könne man nicht um Prozesse herumdigitalisieren, sondern müsse sich auch anschauen, ob Staatsaufbau- und -organisation bei zunehmendem Digitalisierungsgrad der Verwaltung noch so funktionieren wie bisher. Hier seien vor allem die Länder in der Pflicht:
So stimmt Bürger den Forderungsinitiator*innen im Punkt der Zentralisierung der IT-Prozesse zu und regte an, die Länder zukünftig in die Diskussionen stärker einzubinden.
Die Distribution guter IT-Lösungen hält auch Hannes Kühn, Kommissarischer Leiter des NKR-Sekretariats im Bundeskanzleramt, für einen der wichtigsten Punkte der „Dresdner Forderungen“. Auch er argumentiert dabei für das Factory-Modell und legt einen Schwerpunkt auf das Konzept des Gewährleistungsstaates: Die Aufgaben müssen nicht an Bund und Länder zurückgegeben werden; es würde reichen, dass der Staat gewährleistet, dass die Leistungen von den Kommunen gut erbracht werden können, indem eine Vielfalt an kompatiblen technischen Lösungen bereitgestellt würde, aus denen die Kommunen wählen könnten. Auch er hält die vorgelegten Forderungen aber für einen guten Ausgangspunkt für die weitere Diskussion:
Wenn auch über einzelne Forderungen der Kommunen aus unterschiedlichen Perspektiven viel diskutiert wurde, so konnte die Diskussion auf jeden Fall eines zeigen: Die „Dresdner Forderungen“ sind ein guter Kommunikationsanlass, um Bund, Länder und Kommunen an einen Tisch zu holen und über die jeweiligen Bedürfnisse in Bezug auf die Verwaltungsdigitalisierung zu sprechen. Sie können Treiber für die Diskussion um die Anpassung der bisherigen technischen Konzepte und Gestaltung von modernen und effektiven digitalen Lösungen sein, und das auch über den Umsetzungszeitraum des OZG hinaus.
Wahl der neuen AG-Leitung
Ebenfalls auf der Agenda der Sitzung stand turnusmäßig die Wahl der AG-Leitung. Die stimmberechtigten Mitglieder und Förderer der Initiative D21 wählten dabei Dr. Pablo Mentzinis (SAP) neu in die Leitung und bestätigten Isabel Netzband (Fujitsu) im Amt als Leitung der AG Innovativer Staat für das nächste Jahr. Wir bedanken uns herzlich bei D21-Vizepräsident Thomas Langkabel (Microsoft Deutschland) für die sehr gute Zusammenarbeit in der AG-Leitung in den vergangenen zwei Jahren! Aufgrund der Statuten der Arbeitsgruppe konnte er nach zwei Jahren nicht erneut zur Wahl antreten.