„Sich online auszuweisen ist kein Selbstzweck.“

Interview mit Christina Lang zum Kapitel „Digitale Identitäten“ im eGovernment MONITOR 2023

Christina Lang steht mit verschränkten Armen vor einer Glaswand, an der viele bunte Klebezettel hängen.

Von zentraler Bedeutung für einen modernen digitalen Staat, der das Leben der Menschen leichter macht, ist ein vertrauenswürdiges, allgemein anwendbares staatliches digitales Identitätsmanagement. Was meinst du – haben wir ein solches vertrauenswürdiges, allgemein anwendbares Identitätsmanagement in Deutschland bereits? Wie kommst du zu dieser Einschätzung?

Das Potenzial für eine vertrauenswürdige und allgemein anwendbare Identifizierungslösung ist auf jeden Fall vorhanden: Mit dem im Personalausweis integrierten Chip hat Deutschland seit einem Jahrzehnt eines der weltweit sichersten Systeme, um sich online auszuweisen. Für eine weite Verbreitung braucht es aber zusätzlich gute digitale Anwendungsmöglichkeiten, eine leichte Integration in Online-Verwaltungsverfahren und eine einfache Nutzung.

Sich online auszuweisen ist kein Selbstzweck. Salopp formuliert: Niemand steht morgens mit dem festen Vorsatz auf, sich endlich mal wieder online auszuweisen. Im Vordergrund steht immer ein anderes Ziel, für das die Identifikation nur ein notwendiger Schritt ist. Um den Alltag der Menschen wirklich zu erleichtern, müsste also nicht nur die Identifizierung selbst, sondern auch die Einbindung dieses Schritts in den Online-Dienst, der zum eigentlichen Ziel führt, möglichst naht- und reibungslos erfolgen.

So weit sind wir heute noch nicht: Die Einbindung der staatlichen digitalen Identität in Dienste und Verwaltungsverfahren ist kompliziert, und zwar für die Anbieter genauso wie für die Bürger*innen. Aus staatlicher Sicht wäre es sinnvoll, wiederkehrende Elemente zentral bereitzustellen. Wichtig ist, dass diese mit geringem Aufwand in unterschiedlichste Dienste eingebunden werden können und immer gleich ablaufen. Weil dies noch fehlt, gibt es heute noch zu wenige konkrete Anwendungsfälle, die zudem meist nicht nutzerfreundlich gestaltet sind. Dazu passt, dass in der Studie als Gründe gegen die Nutzung des Online-Ausweises vor allem drei Punkte genannt werden: fehlende Anwendungsmöglichkeiten, fehlender Nutzen und die komplizierte Anwendung.

Die Online-Ausweisfunktion (eID) gibt es im November bereits seit 10 Jahren. In dieser Dekade ist viel unternommen worden, um die Nutzung durch die Bürger*innen zu erhöhen. Wenn wir uns jedoch den Anteil an Nutzer*innen des Online-Personalausweises anschauen – aktuell haben 14 Prozent der Online-Bevölkerung, die einen Personalausweis besitzen, die Online-Funktion schon einmal angewandt – dann überzeugt diese staatliche digitale Identität die Bürger*innen bisher noch nicht. Was sind deiner Einschätzung nach die Gründe dafür, dass bisher nur so wenige Bürger*innen die Online-Funktion des Personalausweises nutzen?

Genau auf diese Fragestellung stoßen wir in vielen unserer Projekte. Es sind vor allem drei Punkte, die einer breiteren Nutzung der Online-Ausweisfunktion im Weg stehen:

Es gibt in Deutschland zu wenige Anlässe für die Bürger*innen, sich online auszuweisen. Zwischen dem Erhalt des Ausweises und der ersten Online-Nutzung können Monate bis Jahre vergehen. Bis dahin ist die Option vielen nicht mehr wirklich präsent, der ursprüngliche PIN-Brief wurde verlegt oder die bereits vergebene persönliche PIN wieder vergessen. Und das Zurücksetzen der PIN ist zu aufwändig.

Hinzu kommt, dass es für private Anbieter nicht attraktiv und einfach genug ist, die staatliche digitale Identität in ihre Services einzubinden. Das wäre aber für die Verbreitung wichtig, denn die Menschen haben in ihrem Alltag deutlich mehr digitale Berührungspunkte mit der Privatwirtschaft als mit dem Staat. Kommerzielle Anbieter achten besonders darauf, wie erfolgversprechend eine Identifizierungslösung ist. Die Abbruchquoten bei der staatlichen Lösung werden nicht offiziell erfasst, sind den Akteuren aus der Wirtschaft aber in jedem Fall zu hoch – nach unserem letzten Stand liegen sie über den ganzen Identifizierungsvorgang hinweg zwischen 50 und 80 Prozent.

Nicht zuletzt überfordern die aktuellen Prozesse die Nutzenden. Es gibt kein einheitliches Nutzungserlebnis von der Beantragung des Ausweises über den PIN-Brief bis hin zur erstmaligen oder wiederholten digitalen Nutzung. Die Einbindung in die verschiedenen Anwendungen variiert, dieselben Abläufe werden jeweils unterschiedlich erklärt. In den konkreten Anwendungsfällen ist der Identifizierungsvorgang für die Nutzenden kompliziert und mit Medienbrüchen verbunden, beispielsweise vom Desktop zum Smartphone oder von der BundID zur eigentlichen Verwaltungsleistung.

Der DigitalService hat sich vorgenommen, „[…] digitale Anwendungen des Staates [zu schaffen], die die Bedürfnisse der Bürger*innen in den Mittelpunkt stellen und besser für alle funktionieren.“ Im Koalitionsvertrag sowie in der Digitalstrategie der Bundesregierung findet sich dieses Ziel ebenfalls. Wie bewertest du den aktuellen Prozess der elektronischen Identifikation bei digitalen Verwaltungsleistungen? Ist dieser bereits nutzer*innenfreundlich gestaltet? Wo siehst du Hebel, um den Prozess noch weiter zu optimieren, sodass er das Leben der Bürger*innen erleichtert?

Aus meiner Sicht sprechen die Zahlen im aktuellen eGovernment MONITOR eine deutliche Sprache: Wir können nicht damit zufrieden sein, wenn ein für die Digitalisierung der Verwaltung so zentrales Produkt nach zehn Jahren gerade einmal eine Marktdurchdringung von 14 Prozent erreicht hat und die Bürger*innen die Online-Ausweisfunktion selbst dann nicht in Betracht ziehen, wenn sie aktiv angeboten wird und einen ganz konkreten Nutzen bietet. Zuletzt hat sich dies bei der Einmalzahlung der Energiepreispauschale für Studierende bestätigt: Um das hierfür verpflichtende Nutzer*innenkonto BundID anzulegen, griffen in der Pilotphase 80 Prozent der Studierenden zur Identifizierung auf eine PIN zurück, die ihnen ihre Bildungseinrichtung ausstellen musste. Nur ein geringer Teil nutzte die Online-Ausweisfunktion, die genau für diesen Fall der Identifizierung gedacht ist.

Diese Zahlen zeigen aber auch: Damit Angebote konsequent verbessert werden können, braucht es eine gute Datenbasis. Im Rahmen unseres Projekts „Grundsteuererklärung für Privateigentum“ konnten wir einen neuen Ansatz zur digitalen Identifikation unter realen Bedingungen testen. Dabei konnten wir auf Nutzungsdaten aus über 150.000 gestarteten Identifizierungsvorgängen zurückgreifen, um Hürden im Prozess eindeutig zu erkennen und erste Lösungsansätze zu überprüfen. Eine nutzer*innenfreundliche Lösung ist eine, für die sich Nutzende gern entscheiden und mit der sie sich einfach und erfolgreich identifizieren können. Das spiegelt sich in geringen Abbruchquoten wider. Wir sehen einen großen Hebel darin, digitale Lösungen stärker daten- und erkenntnisgetrieben zu entwickeln. Denn der Weg hin zu einer nutzer*innenfreundlichen Lösung führt über eine kontinuierliche, iterative Weiterentwicklung auf Basis von Nutzungsdaten und Erkenntnissen. Kurze Releasezyklen ermöglichen zudem eine schnelle Reaktion auf neue Erkenntnisse und sich ändernde Bedürfnisse.

Außerdem sollte eine staatliche Identifizierungslösung einen Wiedererkennungswert für die Bürger*innen haben. Die Integration insbesondere in privatwirtschaftliche Anwendungen sollte erleichtert werden. Beides wäre beispielsweise durch zentral zur Verfügung gestellte Bausteine mit einem einheitlichen, intuitiven Design möglich, mit denen die Online-Ausweisfunktion einfach in unterschiedliche Dienste eingebunden werden kann. Das ist ein weiterer starker Hebel, um die Verbreitung und Nutzer*innenfreundlichkeit zu erhöhen.

Der eGovernment MONITOR zeigt, dass 30 Prozent der Bürger*innen ihre Daten nicht mit dem Staat teilen möchten. Bedenken hinsichtlich Datenschutz und -sicherheit sind für einige Bürger*innen ebenfalls Barrieren für die Nutzung von E-Government-Angeboten. Auch in der Debatte um staatliche digitale Identitäten geht es häufig um Datenschutzbedenken, auch im Zusammenhang mit der Registermodernisierung und der Zusammenführung aller Informationen über eine Person an einer Stelle (dem Online-Personalausweis). Welche Möglichkeiten siehst du bei der Gestaltung, aber auch bei der Kommunikation des Online-Ausweis, um solchen Bedenken zu begegnen und sie möglichst auszuräumen?

In Deutschland gibt es im Vergleich zu anderen Ländern in der Tat ein gesteigertes Bedürfnis nach Datenschutz, das hat der „Digital Government Citizen Survey“ erst im vergangenen Juli wieder bestätigt. Um Vertrauen zu schaffen, muss darum auf Transparenz, Sachlichkeit und vor allem Verständlichkeit in der Kommunikation gesetzt werden. Ebenso wichtig ist ein eindeutiger und seriöser Absender. Hier hat der Staat eigentlich einen Vertrauensvorschuss gegenüber anderen Akteur*innen, zumindest bei den meisten Menschen.

Wir sollten aber nicht vergessen, den Begriff „Daten“ richtig einzuordnen sowie zu differenzieren und zu erklären, um welche Daten es geht: Welche Informationen werden im konkreten Fall benötigt? Wofür werden sie genutzt? Auf welche Daten aus anderen Quellen greift der Staat im jeweiligen Prozess eventuell zusätzlich zurück?

Ein ganz wichtiger Aspekt ist auch, die Zivilgesellschaft – gerade deren kritische Vertreter*innen – früh einzubinden, ihre Bedenken und Hinweise ernst zu nehmen und ihre Expertise zu nutzen. Auch in unsere Projekte fließen Anregungen von außen ein. Das setzt allerdings voraus, dass auch die Entwicklung selbst offen und transparent erfolgt. Die Veröffentlichung von Arbeitsergebnissen und Code als Open Source sind dafür zentrale Komponenten.

Eine offene Debatte kann zudem der Skepsis bei Bürger*innen vorbeugen. Ein gutes Beispiel ist die Corona Warn-App; dort hat das im zweiten Anlauf sehr gut funktioniert. Auch die Medien haben die App positiv kommentiert und für die Bürger*innen gut aufbereitet und erklärt.

In anderen Ländern wie Dänemark oder Estland, aber auch in der Schweiz, weisen sich bereits deutlich mehr Bürger*innen digital aus. Was wurde dort anders und vielleicht auch besser gemacht, etwa bei der Einbindung nicht-staatlicher Akteure oder bei der Schaffung von Nutzungsanlässen? Schließlich ist der meistgenannte Grund, die Online-Ausweisfunktion nicht zu nutzen, ist immer noch, dass die Bürger*innen keine Anwendungsmöglichkeiten kennen (38 Prozent).

Im internationalen Vergleich ergibt sich ein sehr heterogenes Bild: Es gibt Länder wie beispielsweise die Schweiz, in denen es noch keine staatliche digitale Identitätslösung gibt. Andere sind – wie Estland oder Dänemark – in diesem Bereich bereits sehr weit fortgeschritten.

Unabhängig von der konkreten technischen Umsetzung zeigt sich aber in den Ländern, die bereits erfolgreiche Lösungen etabliert haben, ein sehr deutliches Muster: Es gibt viele Nutzungsanlässe, bei denen die Bürger*innen die staatliche digitale Identität verwenden – im Verwaltungskontext, aber darüber hinaus auch im Gesundheitswesen, bei Wahlen oder im Privatsektor wie beispielsweise beim Online-Banking oder beim Abschluss eines Mobilfunk- oder Versicherungsvertrags. Staatliche digitale Identitäten setzen sich also nachweislich besser durch, wenn sie zu einem steten Begleiter im Alltag werden.

Wenn du dir die Ergebnisse des diesjährigen eGovernment MONITOR ansiehst: Welche Ergebnisse beschäftigen dich besonders und warum?

Viele der Ergebnisse bestätigen die Erfahrungen aus unserer Arbeit, beispielsweise die nach wie vor fehlende Akzeptanz der Online-Ausweisfunktion. Sie ist besonders dramatisch, weil es ohne eine breit genutzte digitale Identifizierung keine echte Online-Amtsstube – Stichwort OZG – mit vollständig digitalisierten Antragsprozessen geben kann. Das ist aber genau das, was sich die Bürger*innen eigentlich wünschen.

Die BundID als zentrales Verwaltungsportal setzt eigentlich genau hier an. Doch während sich immerhin 53 Prozent der Befragten ein solches Portal wünschen, geben 73 Prozent an, die BundID gar nicht zu kennen. Das zeigt, dass es nicht ausreicht, wenn der Staat dafür sorgt, dass es ein Angebot gibt. Er muss auch sicherstellen, dass die Bürger*innen dieses Angebot finden, verstehen und nutzen können – und dass es in ihrem Alltag eine Rolle spielt.

Hier habe ich die Hoffnung, dass die BundID auf einem guten Weg ist. Nachdem Hessen, das Saarland, Sachsen-Anhalt und zuletzt auch Nordrhein-Westfalen beschlossen haben, statt eigener Länderkonten die BundID zu nutzen, wird das Portal näher an die Bürger*innen und ihren Alltag heranrücken – vor allem durch Verwaltungsvorgänge, die in den Kommunen stattfinden. Wir erwarten, dass die BundID dadurch perspektivisch deutlich an Bekanntheit gewinnt und die tatsächliche Nutzung steigt. Wichtig ist, dass sich bei der BundID nicht die Probleme mit der Marktdurchdringung wiederholen, die bei der staatlichen digitalen Identität und bei der DE-Mail aufgetreten sind.

Die sichere Identifikation im digitalen Raum schafft einen echten Mehrwert für die Bürger*innen wie auch für die Verwaltung. Viele der dafür nötigen Instrumente halten wir bereits in der Hand. Wir wissen auch sehr gut, wo wir ansetzen müssen, um sie zu optimieren. Jetzt gilt es, die große Gruppe derjenigen zu erreichen, die sich bisher noch nicht online ausgewiesen haben – durch einen einfacheren Einstieg, mehr Anwendungsfälle, eine durchgängig gute User Experience und eine klare, zielgruppengerechte Kommunikation.

Das Interview führte

Porträt von Sandy Jahn

Sandy Jahn, Referentin Strategic Insights & Analytics