Digitale Gesellschaft: Chancen nutzen, Spaltung überwinden
Interview mit Prof. Dr. Jeanette Hofmann zum Thema „Digitale Gesellschaft“ im D21-Digital-Index 2024/2025

Prof. Hofmann, Sie leiten das Forschungsprogramm „Die Entwicklung der Digitalen Gesellschaft“ am HIIG. Wie würden Sie den Begriff „Digitale Gesellschaft“ definieren?
Das ist keine leicht zu beantwortende Frage, auch weil darüber in den Sozialwissenschaften keine Einigkeit besteht. Sehr knapp ausgedrückt bezeichnet Gesellschaft den Zusammenhang vieler Menschen, die sich untereinander zwar überwiegend nicht kennen, aber doch Einfluss aufeinander ausüben, unter anderem durch generalisierte Normen, Werte und Strukturen, aber auch durch alltägliche Verhaltensweisen wie etwa die wechselseitige Beobachtung und Nachahmung.
Gesellschaft ermöglicht, strukturiert und begrenzt das Zusammenleben der Menschen – und die Digitale Gesellschaft erweitert das Repertoire der Optionen, das uns hierbei zur Verfügung steht. Dies geschieht zuallererst durch die Herstellung von Berechenbarkeit, das heißt die Abbildung und Indexierung vieler Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in Form von Datenpunkten, die sich speichern, verändern und verknüpfen lassen. In dem Maße, in dem wir eine digitale Repräsentation unserer gesellschaftlichen Umwelt schaffen, erweitern wir die Beobachtungs- und Handlungsmöglichkeiten, die eine Gesellschaft und ihren Wandel prägen. Praktisch erfahrbare Beispiele für die digitale Transformation sind die Gesellschaft, die nichts mehr vergisst, weil sie alles speichert, aber auch die vernetzte Echtzeitkommunikation, die es uns erlaubt, das Handeln der anderen im Moment seines Vollzugs zu beobachten. Wie die Forschung zeigt, führt das zu einer Verstärkung gesellschaftlicher Dynamiken, die wir beispielsweise im öffentlichen Diskurs, in der Entstehung sozialer Bewegungen oder im Aufkommen von Trends erleben.
Zusammengefasst hat die digitale Gesellschaft ihre Koordinationsformen in Nullen und Einsen übersetzt; sie hat die daraus erwachsenen Kommunikationsmöglichkeiten erst gefeiert und dann normalisiert – und schlägt sich nun mit den nichtintendierten Folgen herum, darunter Überwachung, Energieverbrauch, Manipulation und internationale Abhängigkeiten.
Der D21-Digital-Index begleitet die Entwicklung der digitalen Gesellschaft in Deutschland seit über zehn Jahren. 2013 lag der Digitalisierungsgrad der Bevölkerung bei 51 von 100 Punkten und ist seither nur leicht auf 59 Punkte gestiegen. Trotz technischer Innovationen und gesellschaftlicher Umbrüche gab es somit keinen „Digitalisierungssprung“ in der Bevölkerung, sondern eher einen schrittweisen Anstieg. Wie bewerten Sie diese graduelle Entwicklung und welche Faktoren könnten Ihrer Meinung nach einen echten Digitalisierungsschub in Deutschland auslösen?

Schrittweise Veränderungen sind an sich nichts Schlechtes, weil sie Zeit für Reflexionen und Kurskorrekturen einräumen. Wenn man sich die Daten anschaut, zeigen sich jedoch auffällige Korrelationen zwischen geringerer Nutzung bzw. Digitalisierungsskepsis und Alter sowie Bildungsabschlüssen. Das deckt sich auch mit den Erfahrungen, die viele von uns im persönlichen Umfeld sammeln. So tun sich ältere Generationen generell schwer mit den Eigenlogiken des Digitalen. In vieler Hinsicht ähneln digitale Kommunikationsdienste dem Erlernen einer Sprache: Der Zeitaufwand, den man leisten muss, steigt mit dem Alter, während Kinder spielend lernen; und wenn man nicht beständig am Ball bleibt, wird man vom Entwicklungstempo abgehängt.
Untersuchungen bestätigen auch die Vermutung, dass die Bildungsreichen viel stärker von den digitalen Diensten profizieren als Bildungsarme. Insofern spiegelt der Digital-Index ein allgemeineres Problem der Chancenungleichheit wider. Einen merklichen Digitalisierungsschub würde ich mir davon erwarten, dass der Staat seine Bürgerdienste endlich durchgreifend digitalisiert und den Mitarbeitenden und Leistungsempfangenden flächendeckend Hilfe beim Umgang damit anbietet.
Am HIIG befassen Sie sich mit den aktuellen Herausforderungen, vor denen die Gesellschaft durch die Digitalisierungsprozesse steht. Welche zentralen Herausforderungen sehen Sie dabei? Und wie haben sich diese in den letzten Jahren verändert, etwa durch neue Technologien wie Künstliche Intelligenz (KI) oder den wachsenden Einfluss sozialer Medien auf die Meinungsbildung? Welche zukünftigen Entwicklungen erwarten Sie im Bereich der Digitalen Gesellschaft?
Wenn man genauer hinschaut – und dafür sind Forschungseinrichtungen ja da – könnte man den Eindruck gewinnen, dass die Liste der aktuellen Herausforderungen beständig wächst. Aber das ist auch eine Frage der Flughöhe. Einige grundlegenden Herausforderungen ändern sich gar nicht so sehr. Nehmen wir als Beispiel das Thema, mit dem ich mich seit vielen Jahren beschäftige: die Beziehung zwischen Digitalisierung und Demokratie. Hier stellt sich die Frage, was wir besser verstehen und langfristig ändern müssen, um das Prinzip demokratischer Selbstbestimmung auch in Zukunft realisieren zu können. Die sozialen Medien haben die bestehende mediale Infrastruktur für die politische Willensbildung grundlegend verändert. Heute konkurrieren journalistische und algorithmisch gesteuerte Selektionskriterien um unsere Aufmerksamkeit. Die junge Generation wendet sich von den alten Medien ab und verlässt sich zunehmend auf die kuratierten Informationsflüsse der sozialen Medien. Das wirft die Frage auf, ob und wie Demokratien auf die medialen Infrastrukturen des öffentlichen Raums Einfluss nehmen sollen, ohne die Unabhängigkeit der Medien einzuschränken. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Demokratieforschung in jüngster Zeit von der als Annahme abgerückt ist, dass mehr politische Partizipationsmöglichkeiten mit mehr Demokratie gleichzusetzen sind. Die Ausbreitung von Hetze und anderen Formen unzivilisierter Kommunikation in sozialen Medien hat gezeigt, dass hier eine differenziertere Bewertung notwendig ist.
Die allgemeinen Befürchtungen über KI in Deutschland sind auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit algorithmisch gesteuerter Kommunikation zu sehen. Viele Menschen befürchten, dass der Einsatz von Verfahren des maschinellen Lernens den Qualitätsverfall der öffentlichen Kommunikation beschleunigen könnte. Häufig geäußert wird die Sorge, dass wir eine Zunahme an Manipulationsversuchen und Fälschungen erleben werden. Persönlich verblüfft mich das etwas, weil darüber eine mindestens ebenso problematische Seite algorithmischer Systeme in den Hintergrund gerät: Die großen Sprachmodelle und die darauf aufsetzenden Chatbots verstehen den Sinn ihres Outputs nicht und haben daher kein Unterscheidungsvermögen für richtige und falsche Antworten. Wir beschreiben diesen Mangel etwas euphemistisch als Halluzinationen. Praktisch aber stehen wir vor der Herausforderung, den Umgang mit Informationssystemen zu lernen, die über keine verlässliche Qualitätskontrolle verfügen. Das wirft natürlich auch Fragen der Haftung und der Rechenschaftspflicht auf. Wir werden in den nächsten Jahren sicherlich eine Zunahme von staatlicher und privater Regulierung sehen.
Daran anknüpfend würde ich gern über Verantwortung sprechen. Welche Verantwortung haben Technologieunternehmen bei der Gestaltung der Digitalen Gesellschaft, und wie kann diese Verantwortung eingefordert werden?
Unternehmen stehen überall dort in der Verantwortung, wo ihnen das Gesetz keine konkreten Pflichten oder Verhaltensweisen auferlegt. Dabei müssen sie jeweils abwägen zwischen den Erwartungen ihrer Anteilseigner*innen, ihrer Kund*innen und Beschäftigten, aber auch ihrer eigenen „Mission“. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Europäische Digital Service Act, weil er versucht, die gesellschaftliche Verantwortung der sozialen Netzwerke genauer auszubuchstabieren. So müssen die großen sozialen Netzwerke erstmalig Analysen der „systemischen Risiken“, die von der algorithmischen Moderation nutzer*innengenerierter Inhalten ausgehen, vorlegen und zugleich Wege ihrer Behebung benennen. Diese Risiken betreffen mögliche negative Effekte für die Ausübung von Menschenrechten, den öffentlichen Diskurs und die öffentliche Sicherheit, aber auch für Wahlen und die mentale Gesundheit. Plattformen und soziale Netzwerke erbringen Dienstleistungen auf privatwirtschaftlicher Grundlage, die jedoch das Gemeinwohl unmittelbar beeinflussen. Deshalb verlangt ihnen die europäische Regulierung eine höhere Rechenschaftspflichtigkeit ab.
Nur 53 Prozent der Bürger*innen haben das Gefühl, persönlich von der Digitalisierung zu profitieren. Das Empfinden variiert stark nach Geschlecht (Männer: 58 Prozent, Frauen: 47 Prozent), Alter (Gen Z: 66 Prozent, Nachkriegsgeneration: 39 Prozent, Generation bis 1945: 16 Prozent), formalen Bildungsniveau (gering: 34 Prozent, hoch: 70 Prozent) und Einkommen (einkommensschwache Haushalte: 37 Prozent, einkommensstarke Haushalte: 70 Prozent). Wie kann die digitale Teilhabe so gefördert werden, dass möglichst alle Bevölkerungsgruppen vom digitalen Wandel profitieren?

Ergänzend zu meiner Antwort auf die zweite Frage: Eine große Bedeutung kommt der Ausstattung von Schulen zu. Hier werden die Grundlagen für die Verteilungsgerechtigkeit im Bereich Bildung für die nächste Generation gelegt. Ich durfte in einer Zeit des Bildungsaufschwungs zur Schule gehen, als sehr viele öffentliche Mittel in die Ausbildung investiert wurden. Inzwischen ist es in Deutschland wieder so, dass der Bildungsgrad und das Einkommen der Eltern einen hohen Einfluss auf die Bildungschancen der Kinder haben. Das wirkt sich auch auf die Teilhabe am digitalen Wandel aus. Das ist auch mit Blick auf die vielen migrantische Familien in Deutschland fatal. Wir verschwenden so viele Talente, weil wir nicht hinreichend Mittel für die Bildung mobilisieren.
Sie haben auch an internationalen Projekten mitgewirkt und in anderen Ländern geforscht. Inwiefern unterscheidet sich die Digitale Gesellschaft in Deutschland von der in anderen Ländern, und welche kulturellen, politischen oder wirtschaftlichen Faktoren könnten Ihrer Meinung nach diese Unterschiede erklären?
Generell ist die Vielfalt der digitalen Welt so viel größer, als wir sie von Deutschland aus wahrnehmen. Weil wir überwiegend auf die Entwicklung in den USA schauen, übersehen wir, dass andere Länder eigene Wege ausprobieren und sich somit verschiedene digitale Entwicklungspfade als machbar erweisen. Während sich die Nutzung von sozialen Netzwerken in den USA und Europa eher ähnelt, ergibt sich in Asien ein anderes Bild. Jedes Land weist eine unterschiedliche Zusammensetzung von Plattformen auf, darunter gibt es auch Eigengewächse wie die südkoreanische Suchmaschine Naver oder sogenannte „Super-Apps“ wie KakaoTalk, Line oder WeChat, die demonstrieren, dass der Markt für digitale Dienste mehr regionale Pluralität erlaubt, als wir vielleicht für möglich halten.
Aufgefallen ist mir in einigen asiatischen Ländern zudem, dass die ältere Generation mit größerer Selbstverständlichkeit digitale Medien nutzt als in Deutschland. In Erinnerung ist mir ein Taxifahrer fortgeschrittenen Alters in Seoul, der vor Jahren schon mit großer Selbstverständlichkeit die Übersetzungs-App seines Smartphones nutzte, um sich mit mir zu unterhalten. In Taiwan schicken sich die älteren Leute gerne per Smartphone oder Tablet bebilderte Morgengrüße zu. Als Erklärung für die größere Verbreitung digitaler Dienste wurde mir berichtet, dass der engere Familienzusammenhang dafür sorgt, dass man generationenübergreifend voneinander lernen kann. Die App-Entwickler*innen wiederum reagieren darauf mit spezifischen Angeboten.
Wir sind der Ansicht, dass es gerade in einer Zeit, die von Unsicherheit und Krisen geprägt ist, wieder wünschenswerte Zukunftsbilder mit positiven Erzählungen und Zielvorstellungen braucht. Daher zum Abschluss: Welches wünschenswerte Zukunftsbild der Digitalen Gesellschaft haben Sie?
Positiv stimmen mich die vielen „Tech for good“-Initiativen, die Prototypen auch im Bereich von KI entwickeln, um zu demonstrieren, dass gemeinwohlorientierte Technologien eine Zukunft haben. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir den Erfolg sowohl des Internets als auch seiner frühen Kommunikationsdienste wie E-Mail und später des WWW offenen Standards verdanken, die jedem zur Nutzung freistanden. Auf diese Weise konnten enorme Integrationseffekte erzielt werden. Die milliardenschwere IT-Wirtschaft ist auf dem Boden einer Technologie entstanden, die zunächst kaum jemand ernst nahm und die von den nationalen Postbehörden als Übergangslösung betrachtet wurde. Innovation ist auch von der Seitenlinie aus machbar. Und vergleichbar mit der deliberativen Demokratie geht es auch in der digitalen Entwicklung darum, anhand von Alternativen für die gute Lösung zu kämpfen.