„Usability und Vertrauen sind für einen leistungsfähigen Staat entscheidend.“

Interview mit Valentina Kerst für das Kapitel zu einzelnen Leistungen im eGovernment MONITOR 2024

Frau Kerst, in Ihrem Buch, das Sie gemeinsam mit Staatssekretär a. D. Fedor Ruhose geschrieben haben, gehen Sie der Frage nach, warum sich Deutschland und insbesondere die Verwaltung mit der digitalen Transformation so schwertun. Wie lautet Ihre (verkürzte) Antwort?

In Deutschland werden Regeln oft unnötig verkompliziert. Die Digitalisierung hat noch nicht in allen Amtsstuben Einzug gehalten, während unser alltägliches Leben bereits nahezu postdigital ist. Staatliche Bedienstete kämpfen weiterhin mit veralteten Methoden.

Dies liegt daran, dass Prozesse zu langsam ablaufen, Projekte nicht abgeschlossen werden können und der Nutzen der Digitalisierung nicht sofort erkennbar ist. Solange kein Druck durch gesetzliche Vorgaben oder Auflagen entsteht, bleibt vieles unverändert.

Unsere Strukturen verbrauchen Ressourcen, die uns nicht mehr zur Verfügung stehen. Weder finanziell noch technisch und schon gar nicht demografisch.

Sie skizzieren darin auch den Weg zu einem (wieder) leistungsfähigen Sozialstaat. Nehmen wir doch einmal die Perspektive der Bürger*innen ein: Wie kann die Digitalisierung den Sozialstaat für die Menschen wieder spürbar leistungsfähig machen?

Die Digitalisierung ist kein Selbstzweck. Sie bietet uns die Möglichkeit, Verwaltung aus der Perspektive der Bürger*innen zu betrachten und neu zu gestalten.
Usability und Vertrauen spielen eine entscheidende Rolle dabei, wie Menschen einen funktionierenden Staat wahrnehmen und nutzen. Insbesondere dann, wenn die Digitalisierung in der Breite funktioniert, wird der Staat auch leistungsfähig sein. Das ist ein zentrales Element. Anstelle von Leuchtturmprojekten brauchen wir flächendeckende Strukturen. Am Beispiel der Beantragung des Kulturpasses sehen wir, dass die Menschen die angebotenen Services nutzen. Es wäre sehr sinnvoll, wenn Bürger*innen bei allen Beantragungen den digitalen Weg wählen und dadurch mit jeder Anwendung vertrauter werden. Das schafft Mündigkeit und trägt zur flächendeckenden Nutzung bei.

Mit der „Digitalen Nutzungslücke“ beziffern wir den Anteil der Menschen, die in den letzten drei Jahren Behördengänge analog statt digital erledigt haben. Diese digitale Nutzungslücke unterscheidet sich stark nach den nachgefragten Dienstleistungen. Staatliche Unterstützungsleistungen haben eine digitale Nutzungslücke zwischen 42 Prozent (Rente) und 30 Prozent (Arbeitslosengeld) Offline-Nutzer*innen. Was glauben Sie, woran es liegt, dass einige Bürger*innen diese Leistungen lieber analog nutzen?

Wenn wir uns im eGovernment MONITOR 2024 die Gründe für die bewusste Offline-Nutzung ansehen, lassen sich bereits wichtige Erkenntnisse gewinnen. An erster Stelle nutzen Menschen aus Gewohnheit lieber die analogen Wege. Es ist bequem, wenn der Staat bei der Beantragung unterstützt und Hilfestellungen bietet. Trotz aller Kritik an Verwaltungsprozessen schätzen die Menschen den „funktionierenden Staat“. Vor Ort oder am Telefon stehen direkte Ansprechpartner*innen zur Verfügung, die im Zweifel auch die komplizierte Verwaltungssprache übersetzen können. Das Vertrauen in die Mitarbeitenden der Verwaltungen ist daher sehr hoch, und der „Stempel“ hat eine starke Aussagekraft, was zur Bequemlichkeit auf allen Ebenen passt.

Ein weiterer interessanter Aspekt der digitalen Nutzungslücke ist die Angst vor Fehlern. So aussagekräftig der „Stempel“ einer Verwaltung ist, umso größer ist auch die Sorge, in den Anträgen Fehler zu machen, die zu Ablehnungen oder gar weiteren Konsequenzen führen könnten. Hier zeigt sich, dass der Staat durch E-Government eine neue Rolle einnehmen kann: Der moderne Staat verwaltet nicht nur Aufgaben, sondern agiert kundenorientiert und kooperativ. Viele Menschen haben jedoch das Gefühl, dass der Staat noch immer obrigkeitsstaatlich handelt, wie das Beispiel der Grundsteuerreform aktuell zeigt. Dabei wären Kommunikation und direkter Austausch von großer Bedeutung.

Darüber hinaus sind sozioökonomische Faktoren wie Demografie und Einkommensgruppen weiterhin Gründe, die die analoge Nutzung fördern.

Wenn wir uns die Leistung „Bürgergeld beantragen“ genauer anschauen, sehen wir, dass jede*r Dritte dies offline getan hat. 16 Prozent, obwohl sie wussten, dass eine digitale Beantragung (zumindest teilweise) möglich ist. Weitere 10 Prozent haben einfach nicht nach einem digitalen Weg gesucht. Gleichzeitig sagen 67 Prozent der „Offline-Nutzer*innen“, dass sie Bürgergeld zukünftig gern online beantragen würden. Welche Rolle spielt neben der Verfügbarkeit von digitalen Angeboten die Akzeptanz der Bürger*innen?

Betrachten wir erneut das Beispiel des Kulturpasses, der überwiegend digital beantragt wird. Die hohe Akzeptanz resultiert daraus, dass dies der einzige vorgegebene Prozess ist. Die Bürger*innen folgen einem klaren, vorgegebenen Weg. Wenn es hingegen keine Veränderungen in den bisherigen Abläufen gibt oder neue Wege nur als Option neben den bestehenden angeboten werden, entsteht keine klare Struktur und folglich auch keine Akzeptanz.

Klare Prozesse und positive Erfahrungen tragen entscheidend dazu bei, dass Menschen neue Wege akzeptieren. Die Coronazahlungen für die Wirtschaft sind ein hervorragendes Beispiel dafür. In kurzer, weil kritischer Zeit, wurden neue Antragswege akzeptiert. Die Unternehmen haben die positive Erfahrung gemacht, dass die Anträge genehmigt und die Zahlungen zügig ausgeführt wurden.

Kluge Verwaltungen haben sich dieses Beispiel zu Herzen genommen, und dies könnte auch für alle anderen Verwaltungsprozesse, einschließlich des Bürgergelds, eine wertvolle Chance darstellen.

Wir sehen, dass die Bürgergeldempfänger*innen vor allem die mobile Verfügbarkeit des Antrags schätzen. Aus unserer Studie D21-Digital-Index wissen wir, dass Menschen mit geringen finanziellen Mitteln seltener über Laptops oder Desktop-PCs verfügen, das einzige digitale Endgerät ist oft das Smartphone. Wie können wir digitale Teilhabe auch im Bereich E-Government sicherstellen?

Wir benötigen eine digitale Grundsicherung. Etwa ein Drittel der SGB II-Beziehenden verfügen weder über ein digitales Endgerät noch über einen Internetanschluss. Im Buch „Schleichender Blackout“ haben wir bereits benannt, dass es sinnvoll wäre, einen einmaligen Zuschuss in Höhe von 400 Euro sowie einen monatlichen Betrag für den Zugang zur digitalen Welt bereitzustellen.

Darüber hinaus sollten wir uns von der Praxis der Einzelfallentscheidungen verabschieden. Besonders im Sozialstaat besteht der Anspruch, jede*r Person zur richtigen Zeit die notwendige Unterstützung zu bieten. Dies führt jedoch häufig zu seitenlangen Formularen, da jede potenzielle Situation berücksichtigt werden muss. Die Digitalisierung bietet eine gute Gelegenheit, diese Prozesse zu überdenken und Anträge so zu gestalten, dass sie nicht jede denkbare Situation und Einzellösung abbilden müssen.

Während der häufigste Grund für die analoge Abwicklung des Bürgergeldantrags (und aller anderen abgefragten Verwaltungsleistungen) die Gewohnheit ist, folgen beim Bürgergeld auf Platz 2 und 3 die Angst vor Fehlern und die zu hohe Komplexität. Es scheint, dass es nicht gelingt, die für die Bürger*innen schwer verständliche Bürokratie bei der Überführung in digitale Prozesse zu vereinfachen. Woran liegt das und wie kann das geändert werden?

Zunächst benötigen wir eine flächendeckende Digitalisierung. Damit der digitale Wandel nicht nur in wenigen Leuchtturmregionen, sondern überall erfolgreich ist, müssen wir Digitalisierungskompetenzen auf allen staatlichen Ebenen aufbauen. Dies ist die zentrale Aufgabe, wenn wir das neue Leitbild des digitalen Staates mit Leben füllen wollen.
Darüber hinaus müssen wir dringend die Verwaltungssprache überarbeiten. In Deutschland haben etwa 17 Millionen Erwachsene Schwierigkeiten, komplexe Texte zu verstehen. Das Ziel eines modernen Staates sollte sein, dass Bürger*innen und Verwaltung eine gemeinsame, verständliche Sprache sprechen.

Es ist ebenfalls entscheidend, Prozesse zu überdenken und zu vereinfachen, anstatt sie 1:1 ins Digitale zu übertragen. Dies bietet die Chance, Ressourcen zu bündeln und die Abläufe für alle Beteiligten effizienter zu gestalten.

Wenn Sie sich unsere Ergebnisse zum Bürgergeld anschauen: Welche drei Punkte sollten Entscheider*innen jetzt angehen, um die digitale Nutzungslücke zu schließen?

Erstens: „Digital first“ muss eine zentrale Rolle einnehmen. Auch wenn diese Erkenntnis schon seit Jahren besteht, wird sie bisher nur in einzelnen Projekten umgesetzt. Allen Beteiligten ist bewusst, dass wir uns in einer Übergangsphase befinden. Es wird weiterhin analoge Wege geben, und niemand soll zurückgelassen werden. Dennoch müssen wir den Mut aufbringen, das Digitale stärker in den Vordergrund zu rücken - und zwar auch ganz praktisch im Miteinander von Bürger*innen und Verwaltung. Wir müssen weg von der Situation, in der Bürger*innen vor dem Monitor sitzen und die Verwaltung dahinter, hin zu einem Ansatz des gemeinsamen Handelns: „Wir machen das jetzt gemeinsam, und beim nächsten Mal können Sie es vielleicht schon allein.“
So bekommt Verwaltung im Übrigen auch das notwendige Feedback, um sich kontinuierlich zu verbessern. Zudem erkennen wir, dass die Menschen zunehmend genau dies vom Staat einfordern. Es ist für viele nicht mehr nachvollziehbar, dass sich das System auf dem aktuellen Stand befindet. Auch das führt zu Vertrauensverlust.

Zweitens: Für einen echten Systemwechsel in den Verwaltungen müssen deren Führungskräfte zu Treibern des digitalen Kulturwandels werden. Zahlreiche Beispiele aus Deutschland zeigen, dass Führungskräfte einen erheblichen Einfluss auf die Digitalisierung von Prozessen haben. Der Weg führt weg vom Silodenken hin zu den Leitideen der digitalen Transformation. Agilität, Kooperation, Vernetzung und Nutzerorientierung werden dabei immer wichtiger.

Und nicht zuletzt steht die Verbesserung von Verwaltungsabläufen im Vordergrund, wobei Prozesse analysiert, überdacht, vernetzt und neugestaltet werden müssen. Besonders die Vernetzung innerhalb von Schnittstellen wird einen großen Unterschied machen. Entscheider*innen, die über ein großes, inklusives und diverses Netzwerk verfügen, werden bei der Digitalisierung erfolgreich sein. Dies schließt auch erneut die Frage nach der Verwaltungssprache ein.

Wenn Sie sich die Ergebnisse unserer Studie ansehen, gibt es bestimmte Ergebnisse, die Sie besonders relevant oder überraschend finden?

Es ist überraschend und erfreulich zugleich, dass 92 % der Befragten das Online-Bürgergeld erneut online beantragen würden. Dies zeigt, dass Veränderungen erfolgreich eingeleitet werden können. Allerdings wäre es zentral, die verbliebenen 8 % zu befragen, warum sie den Service nicht wieder online nutzen würden.

Abschließend: Gibt es noch etwas, das Sie uns mit auf den weiteren Weg geben möchten?

Zunächst einmal haben wir kein Erkenntnisproblem. Studien und Berichte bestätigen, dass die deutsche Gesellschaft sich den Herausforderungen des digitalen Wandels stellt. Mittlerweile betrachtet die Hälfte der Bevölkerung den digitalen Wandel als eine positive Veränderung unseres Lebens.

Staaten wie Finnland oder Estland verfügen über eine schlechtere Infrastruktur, haben jedoch eine sehr hohe Nutzung von Verwaltungsdienstleistungen. Deutschland hingegen hat einen recht hohen Breitbandausbau, aber schwache Zahlen bei der Nutzung digitaler Dienstleistungen. Wichtige Faktoren hierfür sind unter anderem der geringe Bekanntheitsgrad dieser Angebote sowie deren mangelnde Nutzer*innenfreundlichkeit.
Wir müssen klare Entscheidungswege für den flächendeckenden Einsatz der Digitalisierung organisieren. Digitalisierung erfordert sowohl Optimismus als auch Realismus, um erfolgreich zu sein.

Der Digitalisierung eine Richtung geben – vom Wimmelbild zur gezielten Governance – wäre ein lohnendes Ziel. Eine ermöglichende Digitalisierungspolitik versteht die Transformation sowohl als technologisches als auch als soziales Projekt.

Das Interview führte

Porträt von Sandy Jahn

Sandy Jahn, Referentin Strategic Insights & Analytics (sie/ihr)