AG-Blog | Ist das Ende der Medienkompetenz erreicht? Chancen, Risiken und Regulierungsmöglichkeiten von Social-Media-Nutzung in der Schule

Desinformationen, gefährliche TikTok-Challenges und beeinflussende Algorithmen: Während es in vielen Ländern bereits genaue Regeln zur Social-Media-Nutzung für Kinder und Jugendliche gibt, steckt Deutschland aktuell inmitten in einer Debatte, die oft von Emotionen getragen wird. Die AG Digitale Bildung kam bei ihrer Sitzung zusammen, um konkret über die Zukunft von Social Media an deutschen Schulen zu diskutieren.

Berlin/virtuell. Social-Media- und Handynutzung ist in deutschen Schulen allgegenwärtig. Kinder und Jugendliche werden täglich mit einer Flut an Informationen und Content konfrontiert – und das in einer Zeit von Desinformation und Algorithmen. In der aktuellen Debatte um Social-Media-Nutzung bei Kindern und Jugendlichen geht es daher nicht nur um Suchtprävention oder Datenschutz, sondern auch um die Frage: Ist das Konzept der Medienkompetenz an seine Grenzen gestoßen? Braucht es strengere Regulierung? Welche Verantwortung haben die Betreiber*innen von Social-Media-Plattformen? Und welche Rolle spielen Schulen, insbesondere bei der Sensibilisierung für Risiken? Über diese und weitere Fragen diskutierten die Teilnehmenden der ersten Sitzung der AG Digitale Bildung im Jahr 2025.

Digitale Kinderrechte – Was bedeutet Kinderschutz im digitalen Raum?

Jutta Croll in einem Fenster einer Videokonferenz
Jutta Croll

Im ersten Impuls des Tages gab Jutta Croll von der Stiftung Digitale Chancen einen Einblick in die rechtlichen Grundlagen der Situation von Kindern und Jugendlichen. Und sie stellte die große Frage: Was bedeutet die Digitalisierung in unserem Alltag für den Kinderschutz? Dabei machte sie deutlich, dass Kinderrechte wie das Recht auf Bildung, Meinungsfreiheit und Zugang zu Medien auch im digitalen Raum gelten müssen: „Es ist zentral, dass hierzu auch die Kinder selbst gehört werden. Es darf nicht über ihre Köpfe hinweg entschieden werden.“

Ergebnisse der aktuellen JIM-Studie (Jugend, Information, Medien) zeigen, dass rund 93 Prozent aller 12- bis 19-jährigen Jugendlichen in Deutschland ein eigenes Smartphone besitzen und es tägliche über drei Stunden nutzen. Das sei zwar ein leichter Rückgang im Vergleich zum Vorjahr, aber dennoch eine sehr hohe Zahl, so Croll. Es zeige auch: Der digitale Raum ist längst fester Bestandteil im Alltag von Kindern und Jugendlichen. Damit gehen neue Herausforderungen einher: Wie lassen sich Schutz, Teilhabe und Befähigung im digitalen Raum konkret umsetzen?

Auch der Kinderrechteausschuss der Vereinten Nationen habe sich intensiv mit diesen Fragen beschäftigt. Im Rahmen einer umfassenden Beteiligung von Kindern und Jugendlichen seien acht zentrale Forderungen für eine bessere digitale Teilhabe formuliert worden. Zu den wichtigsten Anliegen zählen ein stärkerer Schutz der Privatsphäre, weniger Überwachung durch kommerzielle Anbieter und Eltern sowie ein größeres Verständnis und mehr digitale Kompetenz auf Seiten der Erwachsenen.

Slide mit Text:

Teilhabe: Forderungen von Kindern und Jugendlichen
Ergebnisse der weltweiten Kinderbeteiligung mit 709 Kindern und Jugendlichen aus 28 Ländern
- Preiswerter, barrierefreier und zuverlässiger Zugang zu Geräten und Netzwerken
- Altersgerechte Inhalte in der eigenen Sprache
- Maßnahmen zur Verhinderung und Beseitigung von diskriminierendem oder aggressivem Verhalten, damit jeder den gleichen Zugang und die gleichen Möglichkeiten bekommen kann
- Vertrauenswürdige und wahrheitsgemäße Informationen, einschließlich transparenterer Informationen von den Online-Diensten selbst darüber, wie persönliche Daten verwendet werden.
- Mehr Privatsphäre, insbesondere weniger Überwachung durch kommerzielle
Unternehmen und Eltern
- Besseres Verständnis und bessere digitale Kompetenz der Eltern und anderen Erwachsenen
- Dienste, die vor Angriffen und Missbrauch schützen
- Zugang zu vertraulichen und vertrauenswürdigen Quellen, um Informationen über die Gesundheit zu erhalten.
Forderungen von Kindern und Jugendlichen: Ergebnisse einer weltweiten Kinderbeteiligung

Laut Croll zeigen diese Forderungen klar:

Kinder und Jugendliche haben ein differenziertes Verständnis von digitalen Chancen und Risiken – und sie wollen aktiv an der Gestaltung ihrer digitalen Lebenswelt mitwirken.
Jutta Croll, Stiftung Digitale Chancen

Handyverbote als Lösungsansatz?

Wie gehe andere Länder mit dieser Ausgangssituation um? Beth Havinga (Connect EdTech) lenkte den Blick auf internationale Regelungen zur Handynutzung an Schulen. In Ländern wie Italien, Schweden, Griechenland und den Niederlanden sei die Handynutzung an Schulen bereits komplett verboten. Frankreich und Dänemark setzten auf altersbasierte Einschränkungen. Dabei, so Havinga, gehe es jedoch selten um Kinderrechte, sondern meist um Themen wie „Digital Wellbeing“ oder Inklusion.

Altersbedingte Verbote: Frankreich, Dänemark
Lokale Verbote: Finnland, Norwegen, Tschechien
Handyverbote: Italien, Schweden, Griechenland, Niederlande
Geräte-Verbote: Ungarn
Beispiele für Hardwareverbote international (Eigene Darstellung von Beth Havinga)

Das Beispiel Australien zeige, wie komplex solche Maßnahmen werden können: Dort wurde Ende 2024 ein Verbot sozialer Medien für unter 16-Jährige eingeführt – begleitet von einem neuen System zur Altersverifikation. Das Problem: Dieses System erfasse teils mehr persönliche Daten als die Plattformen selbst. Eine externe Firma mit Sitz in Großbritannien betreibe das System – bedenkenswert deswegen, weil Großbritannien gezielt in diese Technologie investiert, mit dem Ziel, sie als Exportmodell international zu vermarkten.

Ich bin der Meinung, dass man nicht über Verbote sprechen kann, ohne Antworten auf einige zentrale Fragen zu haben: Mit welchem Rattenschwanz kann man leben? Wem vertraut man die Daten an?
Beth Havinga, Connect EdTech
Beth Havinga im Fenster einer Videokonferenz
Beth Havinga

Havinga plädierte für eine differenziertere Debatte: Es müsse klarer zwischen dem Medium selbst und dem eigentlichen Content unterschieden werden. Außerdem müsse geklärt werden, ob Handynutzung ein technisches oder ein soziales Problem ist. Nur dann ließen sich sinnvolle Lösungen entwickeln. Der Versuch, Kinder zu schützen, ende oft in umfassenderer Überwachung und Datenprofilierung. Es sei daher unrealistisch anzunehmen, dass Minderjährige in der Lage sind, die richtigen Entscheidungen über die Nutzung ihrer Daten zu treffen, und umso wichtiger, dass Entscheidungsträger*innen die Folgen von Verboten und vorgeschlagenen Lösungen vollumfänglich verstehen. Ansonsten werde das Problem nur verschoben und nicht gelöst.

Blick in die Praxis – Social Media im Schulalltag

Silke Müller ist Schulleiterin der Waldschule Hatten und Digitalbeauftragte des Landes Niedersachsen. In diesen Rollen steht sie im direkten Kontakt zu Schüler*innen und weiß, welche Herausforderungen die Nutzung von Social Media mit sich ziehen kann. Digitalen Themen müsse mehr Raum im Klassenzimmer und auf dem Stundenplan gegeben werden. Sie machte an vielfältigen deutlich, wie stark Kinder durch die Inhalte auf Social Media belastet werden können. An ihrer Schule sei daher eine Social-Media-Sprechstunde eingeführt worden – ein Raum, in dem Schüler*innen ihre Erfahrungen teilen und Fragen stellen können.

Silke Müller im Fenster einer Videokonferenz
Silke Müller

Müller empfindet viele der Inhalte, mit denen die Schüler*innen durch Social Media konfrontiert werden, als problematisch: Videos mit Tierquälerei, Gewaltszenen, pornografische Inhalte und Livestreams aus Kriegsgebieten. Auch gefährliche TikTok-Challenges – eine Art Mutprobe per Video – würden immer stärker zunehmen. Erst im letzten Jahr war eine 13-Jährige in Deutschland bei der sogenannten „Blackout-Challenge“ gestorben, bei der man sich selbst bis zur Ohnmacht stranguliert.

Es ist unfassbar wichtig, dass wir wirklich mit den Kindern, aber auch mit uns selbst ins Gericht gehen: Was können wir tun, um die Kinder besser abzusichern?
Silke Müller, Schulleiterin

Für Müller sind pauschale Verbote zu kurz gedacht. Vielmehr brauche es ein Sicherheitsnetz: mehr Aufklärung, mehr Raum für Austausch und vor allem mehr Medienkompetenz – bei Schüler*innen, aber auch bei Lehrkräften und Eltern. Nur so könnten Kinder befähigt werden, sich sicher im Netz zu bewegen.

Zwischen Regulierungsdebatte und Schulrealität

In der abschließenden Diskussion wurde klar: Die Debatte um soziale Medien ist emotional aufgeladen und wird oft ohne klare Zielrichtung geführt. Dabei braucht es eine tiefe Auseinandersetzung mit den entscheidenden Fragen: Was wollen wir schützen? Welche Rolle spielt Medienbildung in der Schule? Und wer trägt die Verantwortung?

Mehrfach wurde betont, dass Schulen mit diesen Fragen nicht alleine gelassen werden dürfen. Sie brauchen klare Rahmenbedingungen, Unterstützung durch externe Akteure und vor allem Zeit und Ressourcen, um mit den Herausforderungen umzugehen. Auch die Schüler*innen selbst wünschen sich mehr Beteiligung, Transparenz und Schutz.

Der Umgang mit Social Media bei Kindern und Jugendlichen bleibt eine Herausforderung. Klar ist aber auch: Pauschallösungen helfen wenig. Stattdessen braucht es eine differenzierte, an Kinderrechten orientierte Debatte und mehr Raum für die Perspektiven derer, die es am meisten betrifft: die Kinder und Jugendlichen selbst.

Eine Videokonferenz mit 12 Gesichtern im Bild

Wahl der AG-Leitung

Bei der AG-Sitzung wurde auch das Ergebnis der turnusgerechten Wahl der AG-Leitung verkündet. Wir gratulieren Alessa Gangl (Bechtle | D21-Vorstandsmitglied) und Stefan Schönwetter (Deutsche Kinder- und Jugendstiftung) zur Wahl als AG-Leitung und freuen uns auf das, was kommt! Herzlichen Glückwunsch! Ein großer Dank geht an die bisherige Co-Leitung der AG Bildung Timm Lutter (Cornelsen Verlag GmbH | D21-Präsidiumsmitglied) und Cornelia Zielke (PD – Berater der öffentlichen Hand), für die fantastische Zusammenarbeit in den letzten Jahren! In ihrer Zeit als AG-Leitung haben sie sich stets mit Begeisterung für eine moderne Bildung und ein Schulsystem, das Schüler*innen adäquat auf die Zukunft vorbereitet, eingesetzt. Wir sind dankbar, dass ihr der AG Bildung auch in Zukunft als Mitglieder erhalten bleiben.

Ansprechpartner*innen in der Geschäftsstelle

Porträt von Ari Henjes-Kunst

Ari Henjes-Kunst, Referent*in Digitale Gesellschaft (kein Pronomen)

Porträt von Stefanie Kaste

Stefanie Kaste, Stellv. Geschäftsführerin (sie/ihr)