AG-Blog | Quo vadis Digitale Ethik? Der Blick zurück nach vorn reloaded
Die Umweltbedingungen der Digitalen Ethik sind sehr dynamisch. Nicht nur in der technologischen Entwicklung sind schnelle Änderungszyklen erkennbar, auch die regulatorischen Bedingungen haben sich – insbesondere im Kontext von Künstlicher Intelligenz (KI) – verändert. Zudem gibt es mehr und mehr Fokusgebiete, die sich unter der Digitalen Ethik versammeln. Nach zwei Jahren war es daher erneut Zeit für eine Reflektion des Status Quo der Digitalen Ethik, und die Arbeitsgruppe fragte nochmal: Quo vadis Digitale Ethik?
Düsseldorf/virtuell. Zwei Jahre nach der ersten Sitzung der AG Digitale Ethik unter der Co-Leitung von Dr. Sarah Becker und Jens-Rainer Jänig hat die AG in ihrer letzten Sitzung als Co-Leitung einen Blick zurück in die Entwicklungen und Erfolge im Bereich der Digitale Ethik gewagt. In der hybriden Sitzung in den Räumlichkeiten von ARQIS in Düsseldorf kamen dazu verschiedene Expert*innen zusammen, um gemeinsam den aktuellen Stand und die Zukunftsaussichten der Digitalen Ethik aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten. Zentral bei den Kurzimpulsen mit Blick auf die Themenbereiche Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft waren die Fragen: Wo stehen wir? Wie ordnen wir die Entwicklungen ein? Und welche Weichen erachten wir als wichtig für die Zukunft?
Perspektive der Wissenschaft
René Heinitz, Solution Developer bei Deloitte, bot der Arbeitsgruppe einen umfassenden Überblick auf die Entwicklungen in der Wissenschaft. Er identifizierte 4 markante Zeitabschnitte, in denen sich das Thema Digitale Ethik in den letzten 8 Jahren maßgeblich verändert hat. Den Zeitraum von 2016 bis 2018 bezeichnete er als „Setting the Scene“. In dieser Phase seien viele der ersten ethischen Leitlinien entstanden, und einzelne Anwendungsbeispiele wie das bekannte Trolley-Problem hätten neue ethische Fragen im Kontext von KI aufgeworfen. Von 2018 bis 2020 habe der Fokus dann auf der Entwicklung von Leitlinien für die Digitale Ethik gelegen, wobei hier zentrale Prinzipien wie Transparency, Reliability und Security erstmals definiert worden seien. In den Jahren 2020 bis 2022 sei es schließlich um die Umsetzung, also die alltägliche Anwendung und Weiterentwicklung, dieser Leitlinien in die Praxis gegangen. Mit der Veröffentlichung von ChatGPT im Jahr 2022 habe dann ein neuer Abschnitt begonnen, der eine Flut neuer ethischer Fragestellungen und Herausforderungen im Bereich der Digitalen Ethik aufwerfe. Seither habe sich das Feld rasant weiterentwickelt:
Auch den AI Act, der am 1. August 2024 in Kraft getreten ist, erkennt Heinitz als einen entscheidenden Meilenstein, der neue Tore für die Digitale Ethik in der Wissenschaft öffnet. Diese Verordnung greife digital-ethische Prinzipien auf und übersetze sie in klare, verbindliche Vorgaben. Sie schaffe einen festen Rahmen, innerhalb dessen sich Verhaltenskodizes und ethische Grundsätze von Organisationen entwickeln und bewegen können. Dies sei ein bedeutender Fortschritt, der nicht nur für mehr Orientierung sorge, sondern auch zahlreiche Prozesse in der Zukunft erheblich vereinfachen werde.
Perspektive der Zivilgesellschaft
Dr. Marie Blachetta, Referentin für Digital Responsibility bei der Initiative D21, erkennt in Bezug auf die Zivilgesellschaft ebenfalls eine kontinuierliche Entwicklung der Digitalen. Sie gliedert diesen Prozess in drei Phasen: Grundlagen (bis 2021), Themenaushandlung (2021–2024) und Quo Vadis (ab 2024). Der Fokus ihres Impulses lag auf den verschiedenen Akteuren und den Fragen, welche Player in den jeweiligen Phasen aktiv waren und welche Themen im Fokus standen. Während zu Beginn des Aufkommens der Digitalen Ethik nur einzelne Akteure wie zum Beispiel die Bertelsmann Stiftung in der Zivilgesellschaft aktiv gewesen seien und insbesondere die Zielsetzung verfolgt haben, das Thema in das öffentliche Bewusstsein zu rücken, seien seit 2021 immer neue Akteure hinzugekommen.
KI – und damit Themen wie KI-Ethik oder KI-Governance – habe dabei eine maßgebliche Rolle gespielt; aber auch weitere Themenschwerpunkte wie Macht, (Un-)Gerechtigkeit oder Nachhaltigkeit seien in den Fokus gerückt und würden nun von Akteuren wie der Gesellschaft für Informatik, Interface oder der Stiftung Mercator bearbeitet. Der Diskurs rund um Digitale Ethik erweitere sich damit – wenngleich das nicht immer unter dem Begriff „Digitale Ethik“ geschehe. Besonders viele Ressourcen und Kapazitäten würden in die Arbeit zum AI Act fließen. Für die Zukunft plädierte Blachetta dafür, die Themenstränge wieder zur Digitalen Ethik zusammenzuführen:
Perspektive der Wirtschaft
Im Anschluss räumte Dr. Sergio Genovesi, Senior Consultant bei SKAD, mit Blick auf die Wirtschaft mit dem Vorurteil auf, dass ethische und moralische Grundsätze in der Corporate World nicht beachtet würden. Er stellte 2 verschiedene Ansätze vor, die in der Wirtschaft relevant seien, wenn es darum geht, ethische Handlungen in einer Organisation umzusetzen: „Conduct-based ethics“ und „Integrity-based ethics“. Conduct-based ethics versuche, illegale und unmoralische Handlungen mit Regeln zu vermeiden. Dies sei ein Mechanismus, bei dem lediglich die Ergebnisse zählen. Der Ansatz Integrity-based ethics beschreibe hingegen ein eher philosophisches Modell, bei dem es nicht um eine reine Beeinflussung der Ergebnisse, sondern um die Beeinflussung der Ziele und Absichten der Regulierungen geht.
Für die Zukunft der Digitalen Ethik in der Corporate World sieht Genovesi insbesondere Themen rund um den AI Act als relevant an. Als nächste Schritte forderte er eine Implementierung von technischen und organisatorischen Maßnahmen in Form von Kontrollen für Systementwickler*innen und Produkt Owner*innen sowie die Durchsetzung von Nutzungsrichtlinien für Mitarbeitende. Hier sei besonders eine Definition und Zuordnung von Verantwortlichkeiten wichtig. Mit Blick auf die ethischen Prinzipien sehe er auch die Entwicklung von Awareness über ethische Richtlinien und KI-Aufklärung durch Schulung der Mitarbeitenden als besonders relevant an:
Quo vadis Digitale Ethik?
In der an die Impulse anschließenden Diskussionsrunde hinterfragten die AG-Mitglieder die Entwicklung der Digitalen Ethik in den letzten Jahren kritisch. So wurde die Frage aufgeworfen, ob dieser Prozess tatsächlich einen linearen Prozess darstelle, oder ob wir uns vielmehr in einem Kreislauf wiederholen würden. Besonders unklar bleibe das grundlegende Verständnis von Digitaler Ethik, das trotz der Auseinandersetzung damit in den letzten Jahren nicht abschließend geklärt sei. Viele Organisationen würden immer noch dazu neigen, Digitale Ethik eher als eine bloße Checkliste abzuarbeiten, anstatt sie als einen partizipativen Prozess zu begreifen, der verschiedene Interessen integriert und dynamisch auf neue Entwicklungen reagiert.
Zusätzliche Herausforderungen wie Greenwashing und der Digital Divide – also der Unterschied zwischen jenen Playern, die sich Zugang zu digitalen Technologien leisten können, und denen, die davon ausgeschlossen bleiben – verschärfen die Problematik laut den AG-Mitgliedern weiter. Die Diskussion verdeutlichte, dass die Entwicklung der Digitalen Ethik komplex und vielschichtig ist und dass es weiterhin einige Hürden zu überwinden gilt. Auch die Verbindung zwischen Digitaler Ethik und Corporate Digital Responsibility (CDR) war ein zentrales Thema der Diskussion.
Einigkeit herrschte bei den AG-Mitgliedern darüber, dass die KI-Verordnung keine Lösung für alle ethischen Fragen sein könne. Sie befürchteten, dass eine solche Haltung dazu beitragen könne, dass Ethik und Recht noch weiter vermischt werden und der ethische Diskurs zunehmend auf eine juristische Ebene verlagert werden könnte. Digitale Ethik dürfe nicht an Bedeutung verlieren, sondern müsse zunehmend an Relevanz gewinnen und in der Praxis direkt verankert werden – es brauche in der Gesellschaft und den Unternehmen eine stärkere „Ethical Awareness“.
Wahl der AG-Leitung
Den Abschluss der AG-Sitzung bildete die Verkündung der Ergebnisse der turnusgerechten Wahl der AG-Leitung. Die amtierenden Vorsitzenden Dr. Sarah Becker (Deloitte) und Jens-Rainer Jänig (mc-quadrat) konnten nach zwei Jahren AG-Leitung satzungsgemäß nicht noch einmal kandidieren. Ihnen gebührt großer Dank für die fantastische Zusammenarbeit! Ob generative KI, Verwaltung & Ethik oder Fragen von (digitaler) Identität: In ihrer Arbeit als AG-Leitung haben beide vielfältige Themen auf die Agenda gesetzt und die Diskussionen sowohl um von aktuellen Geschehnissen inspirierte, aber auch um die großen und übergreifenden Fragen der digitalen Ethik kreisen lassen.
Nun hat die AG Digitale Ethik ein neues Leitungstandem: Wir gratulieren Jolanda Rose (B.YOND) und Dr. Nikolai Horn (iRights.Lab) und freuen uns auf das nächste Jahr, in dem sie die Themen und Sitzungen gestalten werden. Herzlichen Glückwunsch! Sarah Becker gab ihnen noch mit auf den Weg:
AG Digitale Ethik on Tour: Digital Ethics Summit
Der Sitzungsort Düsseldorf bot am heutigen Tag noch einen weiteren besonderen Anlass: Im Anschluss an die AG-Sitzung begaben sich die Teilnehmer*innen gemeinsam zum 4. Digital Ethics Summit der Rheinischen Post, der auf dem Schiff MS RheinGalaxie stattfand. Auf dem Rhein diskutierten weitere Expert*innen aus Wissenschaft, Technologie, Philosophie und Medien über den ethischen Einsatz von KI und anderen Technologien. Die AG-Mitglieder hatten hier die Gelegenheit, den Tag in entspannter Atmosphäre bei weiteren spannenden Gesprächen ausklingen zu lassen.