Tech for all?! Gemeinsam lernen, inklusiver zu denken

Wie können wir als Gesellschaft die Digitalisierung und innovative Technologien nutzen können, um (digitale) Inklusion zu sichern und weiter voranzutreiben? Darum ging es bei dem Themenabend im Rahmen der virtuellen Dialogreihe „Digital Responsibility“ der Digital Future Challenge.

Berlin/virtuell. Die fortschreitende Digitalisierung verändert unsere Gesellschaft tiefgreifend, indem sie neue Möglichkeiten und innovative Entwicklungen schafft. Technologien wie Künstliche Intelligenz (KI) und vernetzte Systeme eröffnen bedeutende Potenziale für verschiedene Lebens- und Arbeitsbereiche. In diesem Kontext ist digitale Inklusion von zentraler Bedeutung. Sie stellt sicher, dass alle Menschen, unabhängig von Alter, Geschlecht, Behinderung, Einkommen oder geografischer Lage, Zugang zu und Nutzen von digitalen Technologien haben. Gleichzeitig ergibt sich mit diesem technologischen Wandel die Notwendigkeit, sicherzustellen, dass diese Innovationen inklusiv gestaltet sind und nicht (unbewusst) neue Formen der Ausgrenzung schaffen.

Marie Blachetta in einem Fenster einer Videokonferenz
Dr. Marie Blachetta

Mit dieser Zustandsbeschreibung eröffnete Moderatorin Dr. Marie Blachetta, Referentin Digital Responsibility bei der Initiative D21, den Themenabend. Ziel des Abends sei es, zu erörtern, wie digitale Tools und Technologien gezielt entwickelt werden können, um Vorurteile abzubauen und eine Kultur der Vielfalt und Akzeptanz zu fördern, ohne dabei unbeabsichtigte Diskriminierungen zu verstärken. Gemeinsam diskutierten Isabelle Joswig, Inklusionsbeauftrage für Google Deutschland und Holger Dieterich, Geschäftsleiter SOZIALHELD*INNEN, darüber, wie wir als Gesellschaft gemeinsam die Verantwortung übernehmen können, eine inklusivere Digitalisierung voranzutreiben, anstatt die Last auf die Betroffenen zu verlagern.

Inklusion aus Perspektive der (Big)-Tech

Isabelle Joswig in einem Fenster einer Videokonferenz
Isabelle Joswig

Isabelle Joswig, Inklusionsbeauftrage für Google Deutschland, brachte mit ihrem Impuls den Teilnehmenden die Perspektive des Unternehmens näher. Dabei sprach Joswig auch über ihre persönlichen Erfahrungen in ihrer Rolle bei Google Deutschland. Die Definition von Behinderung (disability) falle von Land zu Land sehr unterschiedlich aus. In Deutschland gebe es beispielweise verschiedene „Grade der Behinderung“ (GdB) und die Möglichkeit der Gleichstellung mit Menschen mit Schwerbehinderung (bei einem GdB von 30 bis 50). Laut dem Neunten Buch des Sozialgesetzbuch (SGB IX) gelte in Deutschland: Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. […]“.

Zudem sollen weitere Gesetze wie das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz und das Gesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen die Rechte und die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung sichern und schützen. Joswig betonte, dass gerade bei dem Punkt Barrierefreiheit die Frage des richtigen Blickwinkels sehr wichtig sei:

Der Mensch ist nicht behindert, sondern wird behindert. So ist das Problem oft beispielsweise nicht der Rollstuhl, sondern der Bordstein – also die Umgebung, die den Menschen behindert.
Isabelle Joswig, Google Deutschland

Es sei auch wichtig, nicht nur permanente, sondern auch temporäre oder situative Behinderungen sowie „unsichtbare Behinderungen“ (wie Probleme mit der mentalen Gesundheit) mitzudenken. Zudem betonte Joswig, dass Behinderungen nicht nur die Betroffen selbst beträfen, sondern beispielsweise auch „Nicht-Identifizierte“ oder „Allies“ (also Familie, Freund*innen und Unterstützer*innen).

Barrierefreiheit (accessiblility) spiele in der modernen Tech-Welt eine äußerst wichtige Rolle. Sie stelle sicher, dass Menschen mit Behinderungen die Produkte und Dienstleistungen wahrnehmen, verstehen, navigieren und damit interagieren können. Gleichzeitig würden Erneuerungen die aus einem accessibility-Gedanken heraus entstehen, oft nicht nur den Menschen mit Behinderung helfen, sondern können von einer größere Gruppe geschätzt und genutzt werden (Curb cut effect). So sei beispielsweise die E-Mail, die von Vint Cerf für ARPANET entwickelt wurde, zum Großteil durch dessen eigene Hörbeeinträchtigung beeinflusst worden:

(Digitale) Inklusion dient immer auch als Treibkraft für technologische Innovationen.
Isabelle Joswig, Google Deutschland

Unter Inklusion ist die Praxis oder Vorgehensweise zu verstehen, mit der Menschen, die andernfalls ausgeschlossen oder ausgegrenzt würden (Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen, aber auch Angehörige anderer Minderheitsgruppen), gleichberechtigten Zugang zu Chancen und Ressourcen erhalten. Es gehe darum, ein Umfeld zu schaffen, in dem sich jede*r wertgeschätzt, respektiert und unterstützt fühle. Joswig präsentierte in diesem Zusammenhang auch das UN-Motto des „Internationalen Tages der Menschen mit Behinderung“ 2004: „Nothing (about us) without us“.

Konstruktiver Datenaktivismus für Menschenrechte

Holger Dieterich im Fenster einer Videokonferenz
Holger Dieterich

Im Anschluss berichtete Holger Dieterich, Geschäftsleiter und Referent für Inklusion und Barrierefreiheit bei SOZIALHELD*INNEN, aus einer zivilgesellschaftlichen Perspektive auf das Thema digitale Inklusion. Die SOZIALHELD*INNEN betreiben bereits seit 2004 konstruktiven Aktivismus für Menschen mit Behinderung. Er selbst sehe sich darin als „Ally“.

Laut WHO habe einer von sechs Menschen eine Behinderung – aber nur 3 Prozent davon haben sie von Geburt an. Deswegen lud Dieterich die Teilnehmenden zu einem Perspektivwechsel ein:

Wir sind alle vorübergehend nicht-behindert.
Holger Dieterich, SOZIALHELD*INNEN

Am Anfang der Arbeit der SOZIALHELDINNEN habe das Problem: „Komme ich rein?“ (als Mensch mit Behinderung) gestanden. Viele Orte seien nicht barrierefrei und zum Beispiel für Menschen, die einen Rollstuhl nutzen, nicht oder nur schwer erreichbar. Gemeinsam mit dem Aktivist Raúl Aguayo-Krauthausen hat Dieterich daher das Projekt Wheelmap.org entwickelt. Dabei handelt es sich um eine interaktive Karte, die Orte hinsichtlich ihrer Barrierefreiheit bewertet. Ähnlich wie bei Wikipedia kann jede*r solche Orte auf der Karte eintragen und bewerten. Bis jetzt sind weltweit über 2,5 Millionen Orte mit über 100.000 Fotos eingetragen worden, und die App ist in 33 Sprachen übersetzt worden.

Eine Weltkarte aus vielen grünen Punkten, die symbolisieren, wo schon Wheelmap-Orte angelegt wurden

Die Karte von Wheelmap basiere auf der freien Weltkarte OpenStreetMap. Dieterich betonte in diesem Zusammenhang den großen Nutzen von Open Data und appellierte an eine stärkere Bereitstellung und Nutzung von offenen Daten. Der UN-„Disability and Development Report 2024“ nutze beispielsweise die Daten von Wheelmap. Der Report beschäftigt sich mit der Frage, wie gut es den Ländern gelingt, die Welt für Menschen mit Behinderung besser und gerechter zu machen. Zudem würden SOZIALHELD*INNEN Städte und Kommunen beraten, wie diese die Daten nutzen können, um ihre Gebiete barrierefreier zu machen. Gleichzeitig veranstalten die SOZIALHELD*INNEN regemäßige Mapping Aktionen, bei denen Freiwillige nach einer Einführung allein oder in Kleingruppen Orte begehen und diese dann in der Wheelmap-App hinsichtlich ihrer Barrierefreiheit bewerten können. Diese Aktionen würden bei Teilnehmenden vor allem neue Perspektiven ermöglichen und Verständnis schaffen.

Dieterich betonte wie schon Joswig, dass es sich bei Inklusion um ein Menschenrecht und keine Nettigkeit gegenüber Menschen mit Behinderung handele. Laut der UN-Behindertenrechtskonvention müsse die gleichberechtige Teilhabe möglich sein. Daraus müssten sich dann auch europäische und nationale Gesetze ableiten.

Am Ende der Veranstaltung stand der Appell an alle, sich aktiv mit dem Thema digitale Inklusion auseinander zu setzen. Die Verantwortung liege bei jeder*jedem von uns. Dies gelte im digitalen, aber natürlich auch im nicht-digitalen Kontext. Auch heute würden immer noch Menschen mit Behinderung systematisch ausgegrenzt. Hier spiele das „Nicht-Vergessen-Werden“ eine große Rolle. Gleichzeitig sei aber die Bandbreite technologischer Möglichkeiten auch riesig groß. Gerade deswegen sei ein gesundes Reflektieren und eine aktive Auseinandersetzung mit der Thematik notwendig.

Weitere Termine der virtuellen Dialogreihe

Text: Dialogreihe Digital Responsibility

Ansprechpartnerin in der Geschäftsstelle

Porträt von Dr. Marie Blachetta

Dr. Marie Blachetta, Referentin Digital Responsibility (sie/ihr)