AG-Blog | Von Metaversum zu Metaphysik – Was ist „real“?
Vortrag im Rahmen der Sitzung der AG-Ethik der Initiative D21 am 18.05.2022 von. Dr. Nikolai Horn, iRights.Lab | Co-Leiter der AG Ethik der Initiative D21
Was ist real?
Der Begriff Metaverse wurde durch Neal Stephensons Science-Fiction-Roman „Snow Crash“ von 1992 geprägt. An dieser Stelle sei nur zusammenfassend gesagt: Beim Metaversum, geht es um die Erweiterung der Realität (meta= „danach“, „hinter“, „jenseits“ und „versum“ als Abkürzung für Universum/Realität). Was ist aber eigentlich real und wirklich? Hiermit wird die Frage nach Metaversum zur Frage der Metaphysik.
Die Metaphysik („jenseits der Physis als Natur“) ist eine Grunddisziplin der Philosophie. Die Metaphysik beschäftigt sich mit Bereichen der Wirklichkeit, die nicht durch empirische Forschung und Beobachtungen der körperlichen Außenwelt zugänglich sind. Es geht dabei um die nicht-körperlichen, bzw. nicht-gegenständlichen Dimensionen der Realität. Es geht vor allem um den menschlichen Geist. Der Geist ist einer Struktur, mit der wir die sinnlichen Wahrnehmungen strukturiert einordnen, uns selbst wahrnehmen, uns in vielfältige mentale Zustände (z. B. analysieren, träumen, meditieren, Musik erleben) versetzen, Begriffe bilden, abstrakte Objekte wie z. B. Zahlen behandeln 1 . So ist auch die reine Mathematik keine empirische Naturwissenschaft., Ideen entwickeln, Selbst- und Weltbilder entwerfen. Der Geist ist also eine „explanatorische Struktur“ 2 , die uns einen Zugang zu mannigfaltigen Dimensionen – sowohl durch die Sinne vermittelten als auch den durch den Geist selbst produzierten – des Seienden bietet. Das Sein selbst ist ohne den Geist nicht denkbar. Die Metaphysik beschäftigt sich also mit der durch den Geist vermittelten Realität.
Die zunehmende Verschmelzung zwischen phänomenalen (also durch die Sinne unmittelbar wahrnehmbaren) Dingen und dem digitalen Raum lässt dabei die Frage immer dringender werden, was eigentlich „real“ ist. Was ist die „digitale“, bzw. virtuelle Realität? Virtualisierung hat lange vor der Erfindung der Computer begonnen. So stellt bereits die Höhlenmalerei der Steinzeitmenschen eine Art „Virtual Reality“ dar. 3 Ein Element der phänomenalen – also unmittelbar sinnlich erfahrbaren – Welt (z. B. ein Pferd) wird von den menschlichen Sinnen antizipiert, durch den Geist mental innerlich vergegenständlicht (also gedacht) und schließlich in ein Medium (Natursteinfarben und die Höhlenwand) übertragen. In diesem Medium wird das Abbild der Entität „Pferd“ anschaubar und dauerhaft verfügbar gemacht. Jedes Mal, wenn der Geist das Pferd-Abbild antizipiert, stellt er eine Verknüpfung zum Referenzobjekt in einer sinnlichen Umgebung her. Das gemalte Pferd ist dabei ein fiktionaler Gegenstand, auf den wir uns in Abwesenheit eines „echten“ Pferdes aus Fleisch und Blut beziehen. Bei Virtualisierung ging es also zunächst um die Repräsentanz eines sinnlich erfahrbaren Gegenstandes, die dauerhaft verfügbar gemacht wird.
Der menschliche Geist ist aber genauso im Stande gedachte Objekte zu kreieren, die keine Entsprechung in der gegenständlichen Welt haben – James Bond, Zeus, Pokémon, Weihnachtsmann. Und obzwar diese gedachten – also fiktionalen oder fiktiven – Gegenstände keine Entsprechung in der sinnlich erfahrbaren Welt haben, existieren sie in unserer geistigen Wahrnehmung und können auch den Einfluss auf unser Handeln haben: Ein Kind wartet und freut sich auf den Weihnachtsmann, Coca-Cola macht mit ihm Produktwerbung, Nikolai Horn nutzt ihn bei der AG-Ethik, um die „Realität“ zu erklären.
Die bloß gedachte und in der gegenständlichen Umgebung erfahrbare Wirklichkeit stehen in einer Wechselwirkung. Und zwar immer schon. Mit der Digitalisierung löst sich jedoch die Kluft zwischen symbolischer und gegenständlicher Welt zunehmend auf: Es passiert so etwas wie Verflüssigung der Selbst- und Weltbezüge. 4 Dieser mit der Digitalisierung einhergehende Prozess hat Einflüsse auf unser Denken, Handeln und Kulturtechniken: Wir geben Geld für virtuelle Objekte wie Apps aus, entwerfen unser virtuelles Erscheinungsbild in sozialen Netzwerken, jagen auf den Straßen die Pokémons und zwischendurch „verlieben“ wir uns jede 11 Minuten bei „Parship“. Die Grenzen zwischen Physischem und Digitalem verschwimmen zunehmend.
Aber bevor wir näher auf die damit zusammenhängenden Herausforderungen angehen ist die Frage spannend, welchen Status die vermeintlich „irrealen“ (weil digitalen) Räume tatsächlich haben. Ist „real“ nur das, was körperlich/gegenständlich ist? Sind Pokémons real? Gibt es unterschiedliche Welten? Was ist schon die „reale“ Welt?
Es gibt einige Philosoph*innen, wie z. Z. der gegenwärtig international angesehener Bonner Professor Marcus Gabriel, die mit sehr guten Argumenten begründen, dass es die Welt gar nicht gibt, zugleich aber der Weihnachtsmann sehr wohl existiert. Auch ich gehe damit mit und verkünde meine erste wichtige Botschaft: Meine Damen und Herren, die Pokémon existieren wirklich!
Warum ist es so? Nach Gabriel besteht die Existenz darin, dass ein Gegenstand in einem durch den Geist vermittelten „Sinnfeld“ erscheint. 5 „Sinnfeld“ ist ein durch den Geist repräsentierter Erklärungszusammenhang, in dem die Gegenstände Sinn ergeben. Z. B. meine Augen nehmen am Himmel leuchtende Flecken war und mein Geist ordnet ihnen die Erklärung „Sterne“ zu. Alles was wir mit unserem Geist erfassen – sei es ein Pferd auf der Wiese oder ein Pokémon auf dem Bildschirm – erscheint uns in einem Sinnfeld. Im Geist werden diese Gegenstände in einer bestimmten Anordnung mental repräsentiert, in Relation zu dem wahrnehmenden Subjekt gesetzt und in bestimmten Erklärungszusammenhängen zugeordnet. Ein Gegenstand ist dabei etwas, worüber es Tatsachen gibt, sprich: über ihn ist etwas wahr oder falsch. 6 Eine Tatsache ist, worüber man wahre oder falsche Aussagen machen kann: Sterne leuchten oder leuchten nicht. Das gilt auch für fiktive Gegenstände: z.B. „der Weihnachtsmann hat einen weißen Bart“. Auch solche Gegenstände wie die Pokémon existieren daher wirklich, da es über sie Tatsachen gibt (z.B. es gibt laut Wikipedia über 890 Pokémon).7 Sie existieren als imaginäre Objekte, über die es Tatsachen gibt.
Das Nicht-Messbare ist nicht minder real als das Messbare. „Das geistige Leben des Menschen vollzieht sich in Dimensionen, die weit über unsere Anwesenheit in sensorischen Reizszenen hinausreichen.“ 8 Oder, wie es der Philosoph Martin Seel einmal auf den Punkt gebracht hat: „Die messbare Seite der Welt ist nicht die Welt. Sie ist die messbare Seite der Welt.“ Die oft als Gegensatz genutzte Unterscheidung zwischen „realen“ und „nicht-realen“ Dingen ist insofern unzureichend, als das sie die vielfältige Abhängigkeiten zwischen mental repräsentierten und durch ein Medium vermittelten Objekten einerseits und physisch/sinnlich erlebbaren Objekten andererseits nicht hinreichend berücksichtigt. Damit sei nicht gesagt, dass ein Pokémon denselben Status wie meine Katze besitzt. Er ist aber auch nicht nicht-existent. Auch eine Vergewaltigung in einem Computerspiel 9 ist nicht das gleiche wie in der körperlichen Welt, sie findet damit aber auch nicht nicht-statt.
Ereignisse im Cyberraum, in dem wir mit nicht-körperlichen Entitäten konfrontiert und bestimmten Wahrnehmungsepisoden ausgesetzt sind, haben Rückkoppelung auf unsere emotionale, geistige und sogar körperliche Verfassung. Sie sind daher nicht minder real als analoge Ereignisse. Der virtuelle und analoge Raum sind voneinander nicht entkoppelt. Es gibt nur eine Realität, in der es vielfältige Wahrnehmungskonstellationen gibt, mit denen sich unser Geist beschäftigt. Digitale Technik ist durch eine Verschränkung dieser vieler Dimensionen bzw. Sinnfelder gekennzeichnet. Es ist ein Wechselspiel zwischen technologischen Grundlagen, emotionalen Empfindungen, gesellschaftlichen Konventionen, Weltanschauungen, politischen Rahmenbedingungen, ökonomischen Interessen. Die digitalen Darstellungen prägen „die Realität“ insofern mit, als dass sie Deutung des Seienden durch den Geist bedingen. Die digitale Technologie hat dabei einen Einfluss auf die menschliche Einbildungskraft, Wahrnehmungen und schließlich das Handeln.
Damit wären wir bei der Frage:
Welche ethischen Herausforderungen gehen mit der zunehmenden Verschmelzung des Virtuellen und Analogen einher?
Wenn die Weltbezüge im digitalen Raum technologisch gestaltet werden, wird die Hoheit über die Gestaltung der damit vermittelten Wahrnehmungsepisoden zum Machtfaktor. Wer über die Art und Weise bestimmt, nach welchen Kriterien z. B. die Partner*innensuche oder auch die Kommunikation in sozialen Netzwerken, oder auch Verhaltensregeln und Geschäftsmodelle in einem Metaverse stattfinden, bestimmt gleichzeitig die Regeln für die Selbst- und Fremdwahrnehmungen des einzelnen Individuums mit. Die durch digitale Räume erschaffenen Wahrnehmungsepisoden wirken auf das Selbstbild des Menschen und auf seine gesellschaftlichen, kulturellen, politischen und ökonomischen Praktiken zurück.
Technik selbst ist ein Ergebnis vorläufiger ethisch relevanter Entscheidungen. Eine aufmerksamkeitsökonomisch geprägte Logik des digitalen Raumes 10 und digitaler Plattformen ist bspw. kein Zufall, sondern Ergebnis bestimmter Werturteile deren Entwickler*innen. Die Entscheidung über die Möglichkeit, eigene Selbstdarstellung mit Like-Buttons zu bewerten, oder personalisierte Informationsinhalte zu bekommen, findet im Vorfeld der Produktentwicklung statt. Sie prägt zugleich die durch die Digitaltechnik vermittelte Realitätswahrnehmung und bestimmen unsere Denk- und Verhaltensmuster mit (z. B. aufmerksamkeitsökonomisch geprägte Selbstdarstellungspraktiken in sozialen Netzwerken), „die mittels psychometrischer Verfahren auslesen können“. 11 Die Digitalisierung geht somit weit über die technologische Dimension hinaus.
Die sogenannte „Erweiterung der Realität“ im Netz oder in einem Metaversum ist an sich nichts Negatives. Die ethische Herausforderung besteht vielmehr in der Rückkopplung auf die geistig-emotional-körperlich-gesellschaftliche Dimension des Menschen. Im virtuellen Raum werden Denkweisen generiert, die auf all diese Dimensionen hineinwirken. Wird beispielsweise angenommen, dass Liebe und Partnerschaft eine statistisch berechenbare Angelegenheit ist, hat es Auswirkung darauf, wen wir im analogen Raum zum Date treffen (oder gerade, wen wir eben nicht treffen!).
Es geht also um die Menschen- und Weltbilder, welche die Erschaffer*innen von Metaversen hineinprojizieren und die letzten Endes unsere Lebenswelt prägen. Werden bestimmte Menschen- und Weltbilder übergeneralisiert, also z. B. die Auffassung von Menschen als einen emotionsgesteuerten, nach Selbstdarstellung gierigen, statistisch berechenbaren Click-Automaten – droht eine reduktionistische Auffassung vom Menschen. Sie kann z. B. dann entstehen, wenn die Plattformen aufgrund ihrer Architektur bestimmte Selbstbilder und Verhaltensmuster bevorzugen. 12 Denn „da wir uns über Selbstbilder steuern, kann man uns fremdsteuern, indem man in unsere Selbstbildproduktion eingreift“ – so auch Marcus Gabriel. 13 Jedenfalls darf durch die digitalen Räume der Mensch nicht in seiner einzigartigen (und im Sinne des Aufklärungs-Humanismus seine Würde begründenden) Fähigkeit eingeschränkt werden, wirklich selbstbestimmt das Bild von sich selbst zu entwerfen, sich frei zwischen unterschiedlichen Wirklichkeitszugängen zu bewegen und selbstbestimmt zu entfalten. Und umgekehrt – würde ein Metaverse diese Ureigenart stützen, könnte es an sich eine ganz spannende Angelegenheit und Bereicherung erweisen!
Der Informatikpionier Joseph Weizenbaum beklagte bereits in den achtziger Jahren den „Imperialismus der instrumentellen Vernunft“, also selbstverschuldete geistige Machtergreifung der maschinellen Rationalität, die die humanistische Vernunft zu verdrängen drohe. 14 So weit sind wir noch nicht ganz, auch nicht mit einem Metaversum. Nicht desto trotz müssen wir Weizenbaums Warnung ernst nehmen und uns immer wieder vor Augen führen.