„Die digitale Transformation wartet nicht auf die notwendigen Rahmenbedingungen.“
Frau Renkhoff-Mücke, Sie sind Vorsitzende des Digitalrats der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Im Fokus des Digitalrats steht der Wandel der Arbeitswelt: Menschen sollen ermutigt und befähigt werden, diesen Wandel aktiv und erfolgreich mitzugestalten. Welche Rolle spielen Bildung und digitale Kompetenzen für diese Mission?
Die digitale Transformation stellt eine der größten und dynamischsten Herausforderungen für Wirtschaft und Arbeitswelt, unsere Wettbewerbsfähigkeit und damit für den Erhalt unseres Wohlstands dar. Wir alle werden uns in diesem Prozess – in dem Veränderung der Normalzustand ist – flexibel und anpassungsfähig zeigen müssen. Das bedeutet, dass wir unsere Qualifikationen permanent weiterentwickeln werden. Hier ist noch viel Luft nach oben. Unser Bildungssystem ist an vielen Stellen zu träge und unflexibel, um auf die kürzeren Halbwertzeiten von Wissen in diesem digitalen Wandel zu reagieren. In der Arbeitswelt wurde die Notwendigkeit der lebenslangen Weiterbildung zwar erkannt, aber es mangelt immer noch teilweise am Willen und der Bereitschaft von Arbeitgeber*innen, konsequent in die Weiterbildung zu investieren, und am Willen und der Bereitschaft von Arbeitnehmer*innen, die notwendige Initiative einzubringen.
Deutschland steht vor dem Problem eines stetig wachsenden Fachkräftebedarfs im Bereich Digitalisierung. Doch für die digitale Transformation fehlen die notwendigen Fachkräfte; das IW Köln etwa berichtete 2021 von 77.000 fehlenden Arbeitnehmer*innen in Digitalisierungsberufen. Das Wirtschafts- und Innovationspotenzial unseres Landes wird auch davon abhängen, ob wir auf lange Sicht den Bedarf an digital qualifizierten Fachkräften decken können. Was können Unternehmer*innen tun, um Fachkräfte und damit Wirtschafts- und Innovationskraft im eigenen Unternehmen zu gewinnen und zu halten?
Innovativ sind Sie als Unternehmen nur, wenn sie kompetente und kreative Beschäftigte für sich gewinnen können. Hierfür müssen Sie ein*e attraktive*r Arbeitgeber*in sein, der*die nicht nur in den betrieblichen Abläufen Raum für Innovationen schafft, sondern der*die auch eine moderne Unternehmenskultur und neue Arbeitsformen bietet. Das fängt bei der Führungskultur ganz oben an, geht über Gestaltungsmöglichkeiten am Arbeitsplatz und Flexibilität bei Arbeitszeit und Arbeitsort bis hin zu Weiterbildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten, die ganz individuell für den Einzelnen entwickelt werden müssen. Jedes Unternehmen muss da seinen eigenen Weg finden, denn die Kultur muss authentisch sein. Nur ein Unternehmen, das selbst offen, agil und innovativ organisiert ist, wird Mitarbeitende finden, die diese Anforderungen ebenfalls erfüllen.
Unsere Studie zeigt, dass eine deutliche Mehrheit erwartet, dass bis 2035 Tätigkeiten oder gar ganze Berufe durch Digitalisierung und Automation wegfallen werden. Allerdings glauben auch die wenigsten, dass diese Entwicklung auch ihre eigene Tätigkeit bzw. Beruf betreffen könnte. Es scheint, dass den meisten Beschäftigten bewusst ist, dass die Arbeitswelt digitaler wird und dies mit Veränderungen und neuen Anforderungen einhergeht. Aber dies übersetzt sich bisher selten in ein stärkeres Bewusstsein für die Folgen, die das auch für die eigene berufliche Situation haben kann. Sie sind auch selbst Vorstandsvorsitzende eines digital erfolgreichen Familien-Unternehmens. Was können Arbeitgeber*innen tun, um die eigenen Mitarbeiter*innen besser für die Auswirkungen des Wandels der Arbeitswelt zu sensibilisieren und sie auf diese vorzubereiten?
Bei den meisten Mitarbeiter*innen ist mittlerweile angekommen, dass die Digitalisierung Veränderung und Weiterbildungsbedarf mit sich bringt. Wir alle sollten einen Blick auf unsere Employability haben. Dennoch sollte die Notwendigkeit dieser Entwicklung und vor allem auch die positive Wirkung immer wieder kommuniziert werden. Bei der aktiven Umsetzung von Veränderungsprojekten und konkreten Maßnahmen bedarf es dann jedoch meist etwas Nudging und aktive Unterstützung, denn Veränderungen erzeugen oft Unsicherheit und Ängste. Wir haben beispielweise sehr gute Erfahrung mit kleineren Pilotprojekten gemacht, an denen sich die Mitarbeiter*innen freiwillig beteiligen können. Nur als ein Beispiel haben wir die Einführung eines Shared-Desk-Konzepts (ein Arbeitsplatz wird nach Bedarf und Abstimmung von mehreren Mitarbeitenden genutzt) auf diesem Weg erprobt. Wir haben das nicht top-down eingeführt, sondern bewusst die Beschäftigten das Konzept mit erarbeiten lassen. Diese hierarchie- und bereichsübergreifenden Projekte wirken wie ein Schneeballsystem und nehmen Veränderungsängste. Auch kleine Erfolge ermutigen und motivieren Kolleg*innen, sich ebenfalls zu beteiligen und selbst neue Arbeitsformen und Veränderungen auszuprobieren. Im Übrigen ist eine gute, offene und sehr transparente Form der Kommunikation das A und O einer erfolgreichen Transformation.
Spätestens seit Beginn der Corona-Pandemie und der damit verbundenen Kontaktbeschränkungen hat auch ein Wandel in den Unternehmen hinsichtlich der Flexibilisierung des Arbeitsortes durch Homeoffice/mobiles Arbeiten stattgefunden. Der D21-Digital-Index zeigt zwischen 2019 bis 2022 einen starken Zuwachs des Anteils an Beschäftigten, die zumindest ab und an Homeoffice/mobiles Arbeiten nutzen können. Waren es 2019 nur 15 Prozent, so sind es 2022 bereits 38 Prozent. Welche Chancen verbinden Sie mit dieser Entwicklung? Und welche Herausforderungen kommen damit auch auf Arbeitnehmer*innen wie auch Arbeitgeber*innen zu?
Grundsätzlich birgt das mobile Arbeiten eine Vielzahl von Chancen und Vorteilen für Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen. So ist der Wohnort oftmals kein Hinderungsgrund mehr bei der Rekrutierung neuer Mitarbeiter*innen, wenn keine tägliche Präsenz am Arbeitsplatz mehr notwendig ist. Auch können individuell Fahrzeiten reduziert und die Vereinbarkeit mit der Familie deutlich verbessert werden. Die Mitarbeiter*innen haben in der Regel mehr individuellen Gestaltungsspielraum, der in Summe sehr motivierend wirkt. Gleichzeitig gilt es aber, den Teamspirit, die übergreifende Zusammenarbeit und die Kreativität, welche eindeutig in physischen Begegnungen und Meetings besser entwickelt werden kann, zu organisieren und zu fördern. Das ist ein Spagat, der speziell von den Führungskräften ganz neue Kompetenzen abverlangt. Auch ist nicht jeder Arbeitsplatz und jede*r Mitarbeiter*in geeignet für mobiles Arbeiten. Die vor uns liegende Herausforderung sehe ich darin, auch an Arbeitsplätzen innerhalb der Produktionen einen individuellen Gestaltungsspielraum zu ermöglichen, um eine Spaltung der Belegschaft zu verhindern. So haben auch gewerbliche Mitarbeiter*innen den Wunsch, ihre Arbeitszeit individuell beeinflussen zu können, wofür es noch sehr wenige Modelle gibt. Des Weiteren steigen die Flexibilität und Mobilität der Mitarbeiter*innen bezüglich des Wechsels des Arbeitgebers, was wiederum besondere Anstrengungen der Mitarbeiter*innenbindung, auch auf Distanz, verlangt.
Der Digitalrat setzt sich – so das Mission Statement – mit der Zukunft der Arbeitswelt auseinander. Wenn Sie einmal einen Blick in die Zukunft wagen: Auf welche Entwicklungen müssen wir uns als Gesellschaft, muss sich die Politik und Wirtschaftsvertreter*innen in den nächsten Jahren vorbereiten?
Wir alle müssen uns gewahr sein, dass die digitale Transformation erst am Anfang steht, aber mit einer unaufhaltsamen Dynamik fortschreiten wird. Wenn Deutschland den Zug verpasst, wird es ungeheuer schwer, unseren Wohlstand dauerhaft im Wettbewerb zu verteidigen. Die Unternehmen haben in den vergangenen Transformationsprozessen bewiesen, dass sie in der Lage sind, die notwendigen Anpassungen, wenn auch zum Teil schmerzlich, zu vollziehen. Der demografische Wandel und der damit einhergehende Rückgang an Menschen im erwerbsfähigen Alter ist bei der digitalen Transformation ein zusätzlicher Beschleuniger, der die Unternehmen zwingt, die Digitalisierung voranzutreiben. Wenn Sie keine Arbeits- oder Fachkräfte mehr finden, müssen sie in Automatisierung und digitale Assistenzsysteme investieren. Gleichzeitig ist er aber auch eine Bremse, wenn es nicht gelingt, die dafür notwendigen Kompetenzen in ausreichender Zahl zur Verfügung zu stellen. Denn diese neuen Systeme müssen auch entwickelt und angewendet werden. Hier ist die Politik gefragt. Es gilt, in der gleichen Dynamik und Geschwindigkeit, mit der sich der digitale Wandel vollzieht, die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen, die es der Wirtschaft ermöglichen, diese Herausforderungen erfolgreich zu meistern und dauerhaft wettbewerbsfähig zu bleiben. Eine exzellente Bildung, die unsere größte Ressource darstellt, ist ebenso zwingend wie flexible Rahmenbedingungen für eine Arbeitswelt 4.0, die nicht durch bürokratische Hemmnisse konterkariert wird. Auf beiden Feldern besteht dringender Handlungsbedarf, denn die digitale Transformation wird nicht warten, bis wir die notwendigen Rahmenbedingungen geschaffen haben. Gesellschaftlich sollte die Eigenverantwortung wieder einen größeren Stellenwert gewinnen. Nahezu jede*r hat die Möglichkeit, selbstbestimmt die eigene Zukunft zu gestalten. Dieses Selbstverständnis muss wieder stärker in den Mittelpunkt gestellt werden, damit nicht bei jeder Wolke am Horizont der Staat als verantwortlicher Retter gesehen wird und man sich auf dessen Unterstützung zu sehr verlässt. Das gilt im Übrigen auch für die Unternehmen.
Welche digitalen Kompetenzen fehlen in Ihrer Erfahrung am häufigsten bei den Beschäftigten? Wo lauern also die größten Fallstricke, wenn es um die Beschäftigungs- und Innovationsfähigkeit der Mitarbeitenden geht?
Teilweise sind es natürlich technische Kompetenzen oder IT-Kenntnisse, die Weiterentwickelt werden müssen. Allerdings gilt es vor allem, Transferwissen aufzubauen. Damit meine ich die Verknüpfung zwischen Prozessen, Daten und Strukturen mit digitalem Know-How und Grundverständnis, Dieses ist unabdingbar, um innovative Anwendungen und neue Lösungen zu implementieren.