„Die Demokratie, auch die digitale, braucht Fürsprecher*innen in allen Generationen.“
Frau Niejahr, seit 2020 sind Sie nun Geschäftsführerin für den Bereich „Demokratie stärken“ der gemeinnützigen Hertie-Stiftung. Davor waren Sie mehr als 20 Jahre als Journalistin tätig, zuletzt auch als Chefredakteurin der WirtschaftsWoche. Wie haben das Internet und vor allem die sozialen Medien die journalistische Medienlandschaft im Laufe dieser Zeit verändert – im positiven wie auch im negativen Sinne?
Weil ich schon lange dabei bin, erinnere ich mich noch an ZEIT-Redaktionskonferenzen, in denen Herausgeber Helmut Schmidt ZEIT online als „Internet-Ausgabe“ der Zeitung vorstellte. Heute macht die Trennung von digitaler und analoger Berichterstattung oft gar keinen Sinn mehr. Von den vielen Veränderungen in der Medienlandschaft durch die Digitalisierung scheint mir die veränderte Rollenverteilung zwischen Sendern und Empfängern die wichtigste zu sein. Heute kann ja jeder senden und kommentieren, gleichwohl haben Medien ihre Rolle, die Gegenwart zu kuratieren, auch nicht verloren. Die Glaubwürdigkeit von Medien und Personen ist wichtiger denn je. Daher gibt es aus meiner Sicht auch weiter nicht nur Bedarf, sondern auch einen Markt für Qualitätsjournalismus. Das ist positiv. Negativ ist das Ausmaß an gezielter Desinformation im Netz.
An vielen Stellen liest und hört man, die Demokratie befände sich in einer Krise. Auch die sozialen Medien werden dafür verantwortlich gemacht. In unserer bevölkerungsrepräsentativen Befragung glaubt jede*r Vierte, dass sich die Digitalisierung alles in allem eher negativ auf die Demokratie auswirkt, eine*r von fünf glaubt gar, die Digitalisierung stelle eine Gefahr für die Demokratie dar. Wie sehen Sie persönlich den Einfluss, den Digitalisierung und die sozialen Medien auf die Demokratie haben – ist das Glas halb leer?
Die Gefahren für die Demokratie durch Verschwörungserzählungen, Desinformation und Hassrede sehe ich nicht nur ganz persönlich, wir beschäftigen uns auch in der Hertie-Stiftung viel damit, zum Beispiel in einem Projekt mit Unternehmen und ihren Mitarbeitern. Ob auf Dauer eher die Chancen oder die Risiken dominieren, hängt aus meiner Sicht maßgeblich davon ab, wie wir die digitale Debattenkultur der Zukunft gestalten.
Die größte Gefahr für die Demokratie sehen die Menschen eindeutig in der gezielten Verbreitung von Desinformationen. Gezielte Manipulation durch Desinformation ist vor allem in der Corona-Pandemie in den öffentlichen Fokus gerückt, aber auch schon vorher wurde immer wieder versucht, durch absichtlich falsche Informationen Einfluss zu nehmen, z.B. bei der Präsidentschaftswahl 2016 in den USA. Welchen Stellenwert hat das Thema für die Hertie-Stiftung im Bereich „Demokratie stärken“? Welche Erkenntnisse oder Maßnahmen wollen Sie uns zu diesem Thema gern mitgeben?
Unsere Stiftung setzt mit zwei Partnerorganisationen auf den Ausbau von Kenntnissen und Kompetenzen zum Thema digitale Debattenkultur. Im Rahmen des „Business Council for Democracy“ wurden schon mehr als tausend Personen in mehrwöchigen Seminaren geschult. Eine von vielen Lernerfahrungen: Es gibt zwar einen großen Bedarf, auch ältere Menschen zum Thema zu schulen – deswegen arbeiten wir ja mit Betrieben. Auch in den Unternehmen ist es dann aber oft die mittlere und jüngere Generation, die das Thema aktiv vorantreibt. Offenbar betrachten die Millenials – und noch mehr die Generation Z – den digitalen Debattenraum dann doch noch einmal stärker als ihren Verantwortungsbereich und auch ihre Zukunft. Aber im günstigen Fall – und das haben wir bei Unternehmen, mit denen wir arbeiten, so erlebt – gehen sie voran und ziehen dann Ältere mit. Denn auch das haben wir gelernt: Peer-Learning von Kollegen ist extrem wichtig, um ein Thema wie digitale Debattenkultur voranzubringen. Viel läuft über persönliche Empfehlungen. Für ein Projekt zum Thema interessieren sich vielleicht zuerst diejenigen, die schon professionell mit Social Media zu tun hatten – oft, nicht immer, sind das etwas jüngere Beschäftigte. Durch ihre Aktivitäten kommen dann zu den Kursen in der zweiten und dritten Runde andere hinzu.
Unter den „Digital Natives“ (Gen Z und Y) berichten mehr als drei von vier, ihnen seien schon einmal Desinformationen im Netz begegnet – von den Schüler*innen berichten dies sogar 84 Prozent. Gleichzeitig traut sich nicht mal die Hälfte der Schüler*innen zu, die Richtigkeit von Informationen und ihren Quellen im Netz zu prüfen. Wie können wir gerade diese Generationen, die durch einen sehr hohen Gebrauch von Internet und sozialen Medien auffallen, resilienter gegen den Einfluss von Desinformation im Netz machen?
Die Frage nach der Resilienz finde ich sehr gut, denn hier sollte niemand naiv sein: Bildung ist zwar einerseits extrem wichtig beim Kampf gegen Desinformation und Verschwörungserzählungen, aber sie ist auch kein Allheilmittel. Wenn Menschen bestimmte Erzählungen gern glauben wollen, zum Beispiel aus einer großen persönlichen Verunsicherung heraus, kommt man mit Bildung nur begrenzt weiter. Nach unserer Erfahrung ist der persönliche Austausch über konkrete eigene Erfahrungen zentral. Das zeigt auch die Rückmeldungen zu den erwähnten Kursen, die wir mit der Bosch-Stiftung und dem Institute for Strategic Dialogue anbieten. Wir bekommen von den Teilnehmern an unseren Schulungen immer recht detailliertes Feedback. Dabei haben mich immer zwei Punkte beeindruckt: Zum einen, wie viele Menschen Hate Speech und Desinformation aus eigenem Erleben kennen – das zeigt ja auch Ihre Umfrage –, zum anderen, wie groß der Wunsch nach persönlichem Erfahrungsaustausch ist.
In unserer Befragung hat sich gezeigt: Mehr als jede*r Vierte postet aus Sorge vor Anfeindungen im Netz weniger oder gar nicht in den sozialen Medien. Trotzdem findet die Hälfte aller Befragten, es sei wichtiger, im Netz seine Meinung frei äußern zu können, als dass Inhalte auf herabsetzende oder demokratie-feindliche Äußerungen hin kontrolliert werden sollten. Was sagen Sie zu diesem Ergebnis, überrascht es Sie? Und wie kann ein gutes Gleichgewicht zwischen der Möglichkeit zur freien Äußerung und der Wahrung europäischer Rechte und Werte im digitalen Raum aussehen?
Nein, mich überrascht das nicht, denn das Recht auf freie Meinungsäußerung ist ja tatsächlich schützenswerte. Viel wäre aber schon gewonnen, wenn die bereits geltenden gesetzlichen Beschränkungen etwa für Hassrede tatsächlich angewendet würden. Aber bei der Strafverfolgung hinkt die Praxis hinter den gesetzlichen Vorgaben hinterher. Solange das so bleibt, ist es nur begrenzt sinnvoll, über weitere Verbote zu diskutieren. Hier besteht weniger einer Erkenntnis- als ein Umsetzungsproblem.
Im öffentlichen Diskurs stehen deutlich häufiger die Gefahren der Digitalisierung und der sozialen Medien für Demokratie und Zusammenhalt im Vordergrund. Dabei sagt mehr als die Hälfte, Digitalisierung wirke ihrer Meinung nach eher positiv auf die Demokratie. In der jüngsten Generation Z sind es sogar 65 Prozent. Vor allem jüngere Menschen sehen zum Beispiel große Chancen für politische und gesellschaftliche Teilhabe und Engagement. Wie können uns Ihrer Meinung nach das Internet und die sozialen Medien helfen, die Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt im Land zu stärken?
Die Chance für die Demokratie liegt im freieren Zugang von Wissen und neuen Teilhabemöglichkeiten für alle. Das reicht von Jugendlichen in ländlichen Gemeinden, die sich mit Demokratieinitiativen aller Art vernetzen können, bis hin zu Kleinkindeltern, die an einem digitalen Parteitag vielleicht eher teilnehmen als ein einer Großveranstaltung, zu der sie anreisen müssten. Und durch digital organisiertes Crowdfunding wird die Finanzierung von Projekten in einer Zeit möglich, die früher gerade für den ersten Spendenaufruf gereicht hätte.
Wenn Sie sich die Ergebnisse der Bevölkerungsbefragung ansehen: Gibt es ein Ergebnis, das Sie überrascht hat oder das Sie gern noch kommentieren möchten? Oder gibt es etwas, das wir nicht gefragt haben, das Sie uns aber unbedingt noch mit auf den Weg geben möchten?
Ja, es gibt etwas, was mir aufgefallen ist. Denn auch wenn ich selbst auf unterschiedliche Erfahrungen mit verschiedenen Altersgruppen hingewiesen habe: Wir sollten es mit den Zuschreibungen der Digitalkompetenzen nach Alter nicht übertreiben. Dazu ist die riesige Altersgruppe der Babyboomer viel zu heterogen. Wenn wir diese große und über viele Jahre noch einflussreiche Gruppe abschreiben als zu wenig kompetent oder motiviert, werden wir nicht genug erreichen. Die Demokratie, auch die digitale, braucht Fürsprecher*innen in allen Generationen.